Inhalt:
- Winnetou darf nicht sterben. Über
Schule und Gewalt. (Vgl. "Chronologie" unterm 5. 3. 2002!)
- Auszug aus: Halbierte Vernunft und totale
Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirken der Psychiatrie
im Nationalsozialismus.
- Auszüge aus dem Buch über
die Beethovenstraße (in der das Gebäude der Oberstufe der IGS
Linden liegt und H. A. wohnt).
WINNETOU DARF NICHT STERBEN
Über Schule und Gewalt
I. Eine Ikone von Männlichkeit
Als die Komantschen, die unter den schutzlosen
Wigwams der Apatschen mordend und plündernd wüteten, sich vom
Kriegsrat erheben,
Da ertönte jenseits des Tales eine laute Stimme:
"Der Weiße Biber mag hierher sehen! Meine Büchse ist
hungrig auf ihn."
Aller Augen wendeten sich der Stelle zu, woher die Worte klangen. Dort
stand Winnetou, ein dunkler Schatten vor der hellgetönten Felswand,
schwach angeleuchtet von den Feuern im Tal, hoch aufgerichtet, mit angeschlagenem
Gewehr. Die beiden Läufe blitzten nacheinander auf. Der Weiße
Biber stürzte getroffen nieder und neben ihm einer der Unterhäuptlinge.
"So werden alle Lügner und Verräter sterben!" erscholl
es noch. Dann war der Apatsche verschwunden.
Als wir beim abendlichen Vorlesen an diese Stelle kamen,
stand wieder vor mir, wie genau es gewesen ist, als ich dies in der eigenen
Kindheit zum ersten Male las; ich hatte den Geruch von Bohnerwachs und
altem Dackel der Wirtsleute wieder in der Nase, der das Treppenhaus durchzog,
das ich durchsteigen mußte, um die von Hunderten dicker Fliegen
bewohnte Dachkammer zu erreichen, in der mein abgeschiedenes Lesenest
gebaut war. Warum ausgerechnet an dieser Stelle, ist kein Wunder: unübertrefflich
klar und verdichtet ist hier in Bild und Aktion gesetzt, was ein Mann
war.
Für die nicht so Kundigen muß vielleicht klargestellt werden,
daß Winnetou auch hier noch dem Gegner fair seine Chance gelassen
hat: als ihm wenige Seiten später selber ein solcher Tod aus der
Ferne zugedacht ist, da versinkt er auf den Schein des Mündungsfeuers
hin blitzartig im Boden, um nach vorübergepfiffener Kugel ebenso
blitzartig wieder zu stehen, die Silberbüchse im Anschlag...
Meinen feministischen Freundinnen wird nicht gefallen, daß ich meinen
kleinen Söhnen so etwas vorlese. Helfe ich nicht genau jenes Vor-Bild
von Männlichkeit transportieren, das unauflöslich mit Gewalttätigkeit
verbunden ist, gefährliche Omnipotenzphantasien züchtet und,
am Ende des patriarchalen Zeitalters, in den Müllcontainer der Geschichte
gehört?
II. "Du schwule Lehrersau!"
Physische Gewalt ist mir als Lehrer nur ein einziges Mal
selbst auf die Haut gerückt, und zwar als ich einer Kollegin beispringen
mußte, die vor dem Haupteingang von zwei riesengroßen, kahlgeschorenen
Achtzehnjährige, die irgendwie zum Umfeld der Schule gehört
haben müssen, beschimpft und bedroht wurde. Auf mich gemünzt,
fiel dann die oben wiedergegebene Formulierung, die Wurzeln in mir geschlagen
hat.
Eigentlich hätten sie mich wie angekündigt verhauen müssen.
Sie trauten sich aber nicht, und so galt es, mich zur Wahrung des Gesichts
für satisfaktionsunfähig zu erklären. Unwürdig aber,
einen Streit wie unter Männern zu Ende zu bringen, scheint in solchen
Hirnen Weibliches und vollends dessen Verschärfung zu sein: ein Schwuler
eben.
Der Vorfall irritiert kaum wegen der Aussicht, nach sehr langer Zeit sich
mal wieder prügeln zu müssen: das regt eher zu kinomäßigen
Männerphantasien an; was mich beunruhigt, ist dieses Stigma der Satisfaktionsunfähigkeit:
wird denen meiner Schüler, denen beim Erwachsenwerden solche Typen
faszinierend vor Augen stehen, zu vermitteln sein, daß auch solche
wie ich ganze Kerle seien? Schlimmer noch: sind wir das überhaupt,
wir Lehrer? Wirklich ein Mann zu sein, das hieße doch wohl, es im
Ernstfall zu sein. Unerschrockenheit vor armen Kerlchen mit Körpermasse
mag damit so wenig zu tun haben wie die Fähigkeit, ein schweres Motorrad
aufdonnern zu lassen.
III. Mein schlimmster Schüler
Auch mein schlimmster Schüler trägt - seine
Mutter war nämlich noch im Karl-May-Alter, und es ist wirklich wahr
- den Namen eines Häuptlings der Apatschen, von dem an allen Lagerfeuern
erzählt wurde.
Winnetou II, wie er hier genannt werden soll, hat ganz viele gute Gaben
auf seinen Lebensweg mitbekommen. Er ist feingliedrig, schlank und stark,
ein hinreißender Breakdancer; in den Fächern zählt er
zu den Begabtesten; ein Schlaglicht: als ich die Geschichte von Iphigenie
erzählt hatte und die Aufgabe war, entweder einen Brief Agamemnons
oder Klytämnestras zu verfassen, da hatte Winnetou II sich als einziger
sich in das fremde Geschlecht versetzt, in die geschundene Mutter, die
verletzte Frau, und einen besonders anrührenden Text verfaßt.
Inzwischen kommen die Klagen im Abstand von wenigen Tagen. Zuletzt hat
er zum Entsetzen eines seiner auch nicht zimperlichen Freunde einem zufällig
vor ihm Gehenden, den er gar nicht kannte, einfach so von hinten die Beine
weggezogen, einen anderen kopfüber eine hohe Steintreppe hinuntergestoßen.
Oft ist seinetwegen kaum noch ein reguläres Unterrichten möglich.
Zu den Missetaten kommt, daß er, grundsätzlich als erster "fertig",
sich mit Knipsen, Stöhnen und Zappeln zu Wort drängt, zufrieden
erst mit der beständigen ungeteilten Aufmerksamkeit des Lehrers.
Des Lehrers: Ziel solchen Werbens und Einforderns sind Männer. Kein
Wunder, denn es gab nie einen rechten Vater, und betreut wird die Jungenwohngemeinschaft,
in der er jetzt lebt, von jungen Frauen, wie das so ist.
Wir lassen uns durchaus etwas einfallen. Einer von uns wird Winnetou II
mit zum Segelfliegen nehmen. Dennoch ist er ohne Zweifel auf dem Weg,
einer jener aktuellen Wegelagerer zu werden, noch freilich auf der Suche
nach männlichen Orientierungsbildern auch unter seinen Lehrern, und
so mag es gelingen, die Weichen anders zu stellen.
IV. Ein kühner Citoyen
Als Old Shatterhand und Winnetou im Blockhaus des Settlers
Bradley hoffnungslos eingekreist sind, gelingt es mit einem bravourösen
Wagestück, den feindlichen Häuptling zu kidnappen und zur Rede
zu stellen:
Der Okananda blickte eine Weile finster vor sich nieder
und fragte dann: "Seit wann ist Winnetou, der große Häuptling
der Apatschen, ungerecht geworden? Der Ruhm, der von ihm ausgeht, hat
seinen Grund darin, daß er stets bestrebt gewesen ist, keinem
Menschen unrecht zu tun. Und heute tritt er gegen Braunes Pferd auf,
der in seinem Recht ist!"
Gemeint ist das Recht der Sioux, über ihr Land zu
verfügen und sich des ungebetenen Siedlers zu entledigen. Dazu Winnetou:
"Es liegt Winnetou fern, euch dieses Recht abzusprechen.
Aber es kommt auf die Art und Weise an, wie ihr es ausübt. Müßt
ihr denn sengen, brennen und morden, um die Eindringlinge loszuwerden?
[...] Winnetou würde sich schämen, das zu tun [...] du sollst
nicht wie ein Dieb des Nachts geschlichen kommen, sondern offen, ehrlich
und stolz als Herr dieses Landes am hellen Tag hier erscheinen."
Er macht den Vermittlungsvorschlag, daß die Siedler
das Land kaufen könnten, worauf der Sioux auch sofort eingeht, während
der weiße Siedler - ein Verehrer Winnetous und sein Gastgeber! -
sich zunächst sträubt. An diesen gewandt der Apatsche:
"Wenn du glaubst, hier Land stehlen zu dürfen
und dann von euerm Gesetz gegen die Bestrafung geschützt zu werden,
so ist das deine Sache. Wir haben für dich getan, was wir tun konnten."
[...]
Das war in einem Ton gesprochen, der Cropley auf jede Widerrede verzichten
ließ.
Winnetou ist kein Gewalttäter. Er sucht sich an über-ethnischen,
menschheitlichen Rechtsnormen zu orientieren, und seine Beschlüsse
werden mit Autorität durchgesetzt, weil sie der Sache nach zwingend
sind und die Interessen beider Seiten gleichermaßen berücksichtigen:
Resultat eines Diskurses, der durch eine mutige Tat vom Einfluß
der realen Machtverhältnisse freigemacht wurde. Beiden Seiten nur
so weit verpflichtet, wie es dem Allgemeinwohl entspricht, zeigt Winnetou
unbestechliche Rechtlichkeit, Zivilcourage, Tapferkeit vor dem Freund
(nach der Prägung, die Ingeborg Bachmann der schrecklichen "Feigheit
vor dem Feind" entgegensetzte). Er steht ein für die Traditionen
des europäischen Humanismus und der Aufklärung.
Mit heroischen Ausnahmetaten hält er die Stellung, die eigentlich
der Staat mit seinen Beamten einnehmen müßte (im Wilden Westen
zum Glück der Leser nicht kann). Winnetou lebt die bruchlose Einheit
von Männlichkeit und Ziviltugend, weshalb man sich ihn außer
in der Prärie auch im Kongreß der Vereinigten Staaten vorstellen
könnte.
Ist das veraltet? Bedarf es nicht "ganzer Männer" - will
sagen vieler einzelner Menschen, auch Frauen natürlich, die sich
nicht aufspalten und vereinnahmen lassen,die sich an eine Sache verschwenden
und kämpfen können, mutig und streitlustig sind, dem schnellen
Kompromiß nicht trauen, angemaßter Autorität etwas husten,
Exponiertheit, selbst Einsamkeit und Stigmatisierung zu ertragen wissen?
V. Die Sachen bügeln, die Menschen auch
Als Ende des letzten Schuljahres die Verabschiedungen
anstanden, da hielt eine besonders profilierte und besonders enttäuschte
Kollegin eine Rede, die Fehlentwicklungen im Klima der Schule deutlich
markieren sollte. Das freie Wort sei nicht mehr erwünscht, der öffentliche
Diskurs finde nicht mehr statt, die Angst, auffällig zu werden und
sich den Mund zu verbrennen, gehe um. In diesem Zusammenhang berief sie
sich auf das geflügelte Wort, das Hartmut von Hentig als Maxime für
eine "gute Schule" gefunden hat: "Die Sachen klären,
die Menschen stärken".
Das Wort Hentigs bezieht seine Leuchtkraft unter anderem daraus, daß
es lapidar eine alltägliche Unterscheidung verweigert: die zwischen
Unterricht und Schulgestaltung, zwischen Erziehung und Politik. Während
ja alle sich einig sind, daß der Unterricht ein Raum aufgeklärter
Emanzipation sein solle, ist keineswegs selbstverständlich, daß
auch alles, was an einer Schule nicht Erziehung und Unterricht ist, an
solchem Prinzip zu orientieren sei.
Wo Richtung gewiesen wird, wo Verwaltung und Aufsicht stattfindet, wo
Öffentlichkeit sein könnte und Raum für Lehrerinnen und
Lehrer, ihre Schule im Diskurs zu gestalten und sich in ihr wiederzufinden,
dort erlebe ich mehr und mehr, daß die Sachen nicht geklärt,
sondern tabuisiert oder geschönt oder gemäß einer political
correctness zurechtdefiniert und die Menschen nicht gestärkt, sondern
gestutzt, einvernehmlich gemacht, angepaßt und entmutigt werden
- auch: von sich aus mitblöken, sich anpassen, verstummen. Zivilcourage,
lustvoller Meinungsstreit, Spaß an Ironie, Polemik und Überspitzung,
Initiative, Mut, sich zu exponieren, einfallsreiches, Gewohnheit irritierendes
Gegen-den-Strich-Denken, Überschwenglichkeit, Feuereifer, unerbittliche
Rechtlichkeit und Festigkeit, auch "Tapferkeit vor dem Freund"...:
all dies wird nicht nur autoritär unterdrückt wie früher
schon, es kommt, wie mir scheint, aus der Mode, zählt weniger, wird
zunehmend negativ besetzt, kollektiv abgewehrt und stigmatisiert.
Angesagt ist Intimität statt Öffentlichkeit, Friede ohne Diskurs,
Bestätigung ohne Kritik, Therapie und "Kommunikation" statt
Auseinandersetzung, Konformität aus Konformismus. Es ist im Verhältnis
zwischen Behörde und Schule angesagt, zwischen Schulleitung und Kollegium,
in (von Schulleitungen oft schwer zu unterscheidenden) Personalräten,
in Lehrerzimmern und Arbeitsgruppen, oben mehr und weit spürbarer
als unten, aber mit immer weniger Widerstand und immer mehr stillem Einverständnis
von unten.
Ich erlebe das als Gewalt. Was physisch drohenden Schlägern nicht
gelingt, geschieht hier: ich fühle mich in Frage gestellt, es hat
mir sogar schon, wenn es sich in Konfliktlagen bedrohlich zusammenzog
und Widerstand administrativ gebrochen werden sollte, Angst gemacht.
VI. Winnetou darf nicht sterben
Mein schlimmster Schüler zieht bei seinen
Streunereien durch die Korridore nicht deshalb vor ihm Laufenden die Beine
weg, weil in den Lehrerzimmern die Streitkultur schwindet. Und doch gibt
es Zusammenhänge:
So gewiß gewalttätiges Verhalten von Schülern in der Regel
ältere und tiefere Ursachen als schulische hat, so gewiß können
Unzulänglichkeiten von Schule, so wie sie ist, sie noch verstärken.
Gerade diese kleinen Gewalttäter bedürften in weit größerem
Umfange, als wir es bisher leisten, der von Hentig geforderten Stärkung,
und zwar meine ich, daß sie gerade in ihrer Männlichkeit gestärkt
statt immer wieder nur beschnitten werden müßten. Dies geschieht,
wenn wir sie z.B. zum Segelfliegen einladen oder mit ihnen in unsere alpine
Kletterwand steigen, doch muß das weitergehen. Quirligen, mutbeseelten,
kampfeslustigen, erlebnishungrigen Jungen muß der gewaltlose Streit
mit Argumenten und Worten - um Sachen, für die man verantwortlich
ist und die der Veränderung zugänglich sind - als sublime, historisch
adäquate Gestalt regressiver und obsolet gewordener Körpergewalt
erschlossen werden. Das wird eine Schule, die nicht in allen ihren Bereichen
auf Hentigs Klären und Stärken gestellt ist, nicht überzeugend
leisten können.
Das ist die eine Seite; die andere: Insofern gewaltgefährdete Jungen
vaterlos und vätersuchend, jedenfalls alternativer Manns-Bilder bedürftig
sind, brauchen sie männliche Lehrer, an denen sie sich abarbeiten
und orientieren können. Worauf es ankommt, ist Authentizität.
Wenn wir die Sachen und uns selbst zurechtbügeln lassen, statt auf
Klärung und Subjektsein zu insistieren, dann fügen wir uns unserer
eigenen Kastration, und das wird man uns anhören.
Schließlich: was da wie Mehltau über das Schulleben und durch
die Pädagogenseelen stäubt, sedierend und einfärbend, kann
nicht exklusiv uns nur betreffen. Männlichkeit steht auch draußen
auf der Roten Liste, und hierauf werden wir niemanden Junges vorbereiten
können, wenn wir selber uns zu schlagen (die Sprache bewahrt die
Zusammenhänge!) aufgehört haben. Winnetou darf nicht sterben.
(Anfang Februar 95)
Postscriptum am 10. Februar
Es ist klar, daß man in einem solchen Text -
dieser hier wurde ursprünglich als Auftragsarbeit für eine pädagogische
Zeitschrift und mit entsprechend beengtem Raum geschrieben - nicht alles
berücksichtigen kann, was eigentlich zum Thema gehörte. Dennoch
beschämte mich ein Erlebnis beim gestrigen Elternsprechtag. Ein Herr
Akçay stellte sich vor, von dem ich kein Kind unterrichte. Ein
sehr einfacher, kleiner, bescheidener Mann, Arbeiter auf den ersten Blick.
Er hatte sich zu uns durchgefragt. Ob wir nicht diesen Jungen in unserer
Klasse hätten, der seinen Yasin die Treppe hinuntergestoßen
habe. Er wisse, daß so etwas vorkomme, früher vielleicht noch
öfter als heute, und die IGS Linden sei auch kein schlimmerer Ort
als andere, aber sein Sohn und seine Familie seien erschrocken. Man könne
doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ob wir nicht den Kontakt
zum Elternhaus herstellen könnten, damit irgend etwas geschehe, um
klarzustellen, daß so etwas nicht richtig sei und sich nicht wiederholen
solle.
Ich habe vorgeschlagen, daß Winnetou II - wenn er es einsieht -
einen Besuch macht. Familie Akçay erwartet kein Trostgeschenk,
keine bestimmte Entschuldigung; sie werden Tee kochen, stelle ich mir
vor, und sehr höflich und freundlich sein. Winnetou II hat spontan
zugesagt - was nun daraus wird, müssen wir abwarten.
Die Indianer, jeder weiß es, haben zur Aussöhnung die Friedenspfeife
geraucht. Wir, immer unfähiger, uns miteinander auseinanderzusetzen,
kommen schon gar nicht mehr darauf, daß Versöhnung sein müßte,
wo Feindseligkeit oder Gewalt war. Unfähig zum Streit, es sei denn
zum brachialen oder tückischen, haben wir das Sich-Vertragen schon
gar nicht mehr im Blick, schon gar nicht im Repertoire. Um nicht mißverstanden
zu werden: den Schülerinnen und Schülern gegenüber haben
wir es noch am ehesten im Blick, aber wie steht es mit uns und unseren
Konflikten, wie steht es gar mit den Leitenden und der Art, wie sie Probleme
mit uns bewältigen, gar solche, die sie miteinander haben, sachlichen
und persönlichen?
Nein, die Wilden, das sind wir selbst, und die Zukunft, für die wir
Verantwortung tragen, könnte barbarischer werden als Kleinasien und
manche ferne Vergangenheit. Auch deshalb darf Winnetou nicht sterben.
Erschienen in: Schüler 1995: GewaltLösungen
(Jahresheft des Friedrich-Verlages)
Hans Asbeck, Matthias Hamann
Halbierte Vernunft und totale Medizin
[1. Teil, von H.A.]
Goldhagen und unser Trugbild der NS-Verbrechen
Unter der Überschrift "Täterland"
druckte die ZEIT am 3. Januar 1997 in ihrem Rückblick auf das Jahr
1996 auch einen kurzen Artikel von Volker Ullrich über die "Goldhagen-Debatte":
"Mit seinen Thesen über die Beteiligung der
'ganz gewöhnlichen Deutschen' am Holocaust hat der junge Harvard-Dozent
Daniel Jonah Goldhagen die deutsche Öffentlichkeit aufgewühlt.
Zuerst wehrten sich Medien und Wissenschaftler gegen Goldhagens Thesen,
später stimmten ihm einige zu. Einig blieben sich die Kritiker
allerdings darin, daß Goldhagen es sich zu einfach mache, wenn
er die Mordbereitschaft der vielen 'willigen Vollstrecker' aus einem
in Deutschland tief verwurzelten 'eliminatorischen Antisemitismus' zu
begründen versucht.
So deutete alles darauf hin, daß er bei der Verteidigung seines
Buches während seiner Deutschland-Reise im September einen schweren
Stand haben würde. Doch wo immer er auftrat - in Hamburg, Berlin,
Frankfurt und München -, flogen ihm die Sympathien zu. Offenbar
honorierte das Publikum, daß hier ein Wissenschaftler mit großer
Entschiedenheit auf der individuellen Verantwortung jedes Täters
(und gerade nicht auf Kollektivschuld) beharrte.
Manche Kommentatoren glaubten, diese unerwartet positive Reaktion als
typisch deutsche Neigung zur 'kollektiven Selbstbezichtigung' abwerten
zu müssen. Aber was macht es eigentlich so schwer, in der Aufgeschlossenheit,
auf die Goldhagen im Land der Täter gestoßen ist, eines der
erfreulichsten Ereignisse des Jahres zu erkennen?"
Das große Interesse, das die Tagebücher Victor
Klemperers gefunden haben, sowie der Frankfurter Durchbruch der Wehrmachts-Ausstellung
zu einem Massenerfolg, der selbst schon zum historischen Ereignis zu werden
scheint, weisen in die nämliche Richtung. An diese neue Aufgeschlossenheit
will dieses Vorwort anschließen: es verknüpft die im vorliegenden
Band ausgebreiteten Gedankengänge und Forschungsresultate vorab so,
daß sie als zusammenhängender Beitrag zur weiteren Aufklärung
und zu anstehenden Lernprozessen über die wundesten Punkte deutscher
Geschichte sichtbar werden.
Trotz aller Anstrengungen von Wissenschaft, Unterricht, Publizistik und
Kunst, für die auch diese Schriftenreihe steht, lichtet sich nur
langsam ein zählebiger mythischer Schleier: das den Seelen Schutz
bietende, entlastende Trugbild eines wie aus dem Nichts einem "normalen"
Volk gewaltsam übergestülpten hochorganisierten Gewaltapparates,
in dessen Zentrum sich Macht und Initiative zusammengeballt hätten,
während an den Peripherien Befehlen gehorcht und mitgemacht werden
mußte. Vor allem die Bereitschaft, in großem Stil Verbrechen
von bis dahin nicht vorstellbarer Unmenschlichkeit zu begehen und geschehen
zu lassen, gründe in der spezifischen Gedankenwelt eines Führers
und einer "Bewegung" und darin, daß die Gehirne für
die wenigen Jahre eines aus allem Gewohnten herausreißenden Taumel
mit dieser Gedankenwelt durchtränkt wurden. 1945 aber markiere mehr
noch als das Jahr 1933 einen tiefen Bruch, der die entscheidenden, insbesondere
die identitätsstiftenden Kontinuitätslinien zerrissen habe.
Zu zeigen ist, wie die hier versammelten Aufsätze zur weiteren Destruktion
dieses Schleiers zusammenwirken. Aus unterschiedlichen Perspektiven entsteht
eine Kette von facettenartigen Ausblicken auf eine Schreckenszeit, deren
Inhumanität tiefer als gedacht in der Geschichte Deutschlands und
der deutschen Mentalität, aber auch der westlichen "Moderne"
wurzelt und die gerade auch im Bereich und im Umfeld der Medizin von sehr
vielen - von Institutionen, Fachrichtungen und Interessenten sowie von
einer großen Zahl einzelner Menschen - verantwortlich getragen,
ja initiiert und mit eigener Dynamik erfüllt wurde.
Rechtzeitig und in angemessener Weise bewußt gemacht, gar betrauert,
verarbeitet, in Lernen überführt wurde dies nicht, und wie heutige
Debatten um Eugenik, Gentechnik, Euthanasie, Sterbehilfe und Intensivmedizin,
aber auch um Sozialabbau und Solidaritätsverlust zeigen, gehört
diese Inhumanität nicht einmal schlicht der Vergangenheit an: auch
davon handelt dieses Buch.
Vordenker der Vernichtung
Rechtfertigendes für die Verbrechen der Deutschen
unterm Nationalsozialismus findet sich lange vor dessen Machtantritt bei
Autoren, die keineswegs Rechtsradikale oder Einzelgänger waren, sondern
Fachleute, die mitten im Theoriediskurs ihrer Zeit standen und von Strömungen
getragen wurden, denen nichts Verbrecherisches anzuhaften schien.
So war 1921 ein "Grundriß der menschlichen Erblehre" erschienen,
verfaßt von den Universitätsprofessoren Erwin Baur, Eugen Fischer
und Fritz Lenz, der sich ausdrücklich in den Dienst einer seit 1905
existierenden "Gesellschaft für Rassenhygiene" stellt und
aus deren programmatischen "Leitsätzen" zustimmend zitiert:
"Die Hauptgefahr, die jeder Volksgemeinschaft
droht, ist die Entartung, nämlich die Verarmung an wertvollen,
leistungsfähigen Rassenelementen."
"Für zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger
und sonst Entarteter scheint bei uns die Zeit noch nicht gekommen zu
sein."
"Um die Fortpflanzung unsozialer oder sonst schwer entarteter Personen
zu verhüten, sollte deren Absonderung in Arbeitskolonien, die durch
die Arbeit der Insassen und Beiträge der Unterhaltspflichtigen
sich wirtschaftlich selbst erhalten, schon heute gesetzlich in Angriff
genommen werden."
Hitler konnte den Baur-Fischer-Lenz während seiner
Festungshaft in Landsberg bereits in der zweiten Auflage lesen und ihm
wesentliche Elemente für die erbhygienische Programmatik von "Mein
Kampf" entnehmen.
Wenn man nun umgekehrt feststellt, daß der Mitautor Lenz 1931 Hitlers
Buch enthusiastisch rezensiert, so darf man daraus nicht den Schluß
ziehen, man bewege sich eben im braunen Milieu oder die Ideen der Rassenhygieniker
hätten gewissermaßen das Nadelöhr von "Mein Kampf"
passieren müssen, um zur mörderischen Wirklichkeit zu werden;
eher ist es so, daß eine respektierliche Zunft den Politiker gefunden
hatte, der ihrem durchaus nicht unpopulären Programm eine Chance
gab. Schon Baur, Fischer und Lenz schwebte nämlich eine Gesellschaft
vor, in der von einer zentralen Behörde aus alles "Untaugliche"
an Fortpflanzung zu hindern, alle Paarungen zu genehmigen, alle Neugeborenen
zu begutachten gewesen wären, wobei logischerweise ihnen, den Rassenhygienikern
selbst, die Selektionsmacht zugefallen wäre.
Von vergleichbarer Bedeutung ist das seinerzeit vieldiskutierte Werk von
Binding und Hoche, das bereits 1920 und wiederum unabhängig von der
Nazibewegung schon mit seinem Titel für die "Freigabe der Vernichtung
lebensunwerten Lebens" plädierte. Noch in Prozessen der sechziger
und siebziger Jahren wurde zur Entschuldigung "Euthanasie"-belasteter
Ärzte auf dieses Buch "ernstzunehmender Wissenschaftler"
verwiesen, wobei argumentiert werden konnte, die Angeklagten hätten
zwar "objektiv" gemordet, subjektiv jedoch nicht, da ihnen aufgrund
solch wissenschaftlicher Fundierung ein Unrechtsbewußtsein gefehlt
habe.
Wenn solche der Vernichtung vordenkenden Theorien aber nicht im Nationalsozialismus
selber wurzeln und auch nicht gleichen Ursprungs mit diesem sind, worin
gründen sie dann?
Christliches Abendland, Aufklärung: Ideengeschichte des Ausmerzens
"Der göttliche Funke, der in uns allen glimmt,
leuchtet uns heute zu neuen Wegen, die die Menschheit zum Heile führen.
Und in diesem Sinne wollen auch wir Rassenhygieniker Arbeiter im Weinberg
Gottes sein."
Mit diesen Worten beschließen Baur, Fischer und
Lenz ihr Werk, das sie damit in ehrwürdige Traditionen der westlichen
Welt hineinstellen. Dabei sollte es doch so scheinen, als sei nichts unverträglicher
mit ihren Vorstellungen eigenmächtiger, das Individuum entmündigender
und funktionalisierender Menschenzüchtung als die Unbedingtheit,
mit der es nach jüdisch-christlicher Lehre den einzelnen Menschen
- jeden einzelnen Menschen - zu lieben gilt; als die positive Sicht menschlicher
Endlichkeit und menschlichen Leidens in der nämlichen Tradition;
als die bürgerlich-humanistische Idee des Subjekts, das sich als
je einzelnes politisch, ökonomisch und moralisch befreien soll: jeder
einzelne ein unverwechselbares Abbild Gottes und unmittelbar zu diesem,
Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit, der andere niemals Mittel
zum Zweck, sondern stets Zweck an sich selbst.
Und doch haben die drei Autoren nicht ganz unrecht, wenn sie diese Tradition
für sich in Anspruch nehmen. Zwar haben die Weinberge in den Gleichnissen
Jesu, auf die sie anspielen, nichts mit Menschenzüchtung zu tun,
eben dieser Gedanke taucht aber bei einem antiken Autor schon auf, bei
Platon nämlich, der über den Neuplatonismus tief auf die christliche
Scholastik eingewirkt hat, so daß sich schon im Mittelalter die
Vorstellung einer Rangordnung der Dinge und Lebewesen ausprägen konnte:
das Normale steht über dem von der Norm Abweichenden, weil dieses
den "Ideen", den idealen Mustern des Seienden, ferner steht.
Hieraus konnte die "moderne" Vorstellung entstehen, daß
es Aufgabe des Menschen sei, alles seinem Veränderungswillen Zugängliche
zur Perfektion zu treiben, die Schöpfung also aus der Hand Gottes
in die eigene zu nehmen und zu vollenden: nichts anderes wollten Fischer,
Baur und Lenz, Binding und Hoche, und dies meinte auch Hitler, wenn er
vom arischen Menschen der Zukunft sprach, und viele mit ihm, denen er
grünes Licht für die Verwirklichung ihrer totalitären Hygiene-Utopien
gab.
Um das zu verstehen, muß man sich klarmachen, daß "aufgeklärtes"
Denken schon im 18. Jahrhundert nicht immer und ohne Wenn und Aber die
gleichberechtigte Emanzipation aller Menschen wollte; dieses Denken hatte
auch die Tendenz - im Interesse bürgerlichen Macht- und Gewinnstrebens
-, sich selbst, die auf Naturbeherrschung ausgelegte neuzeitliche Rationalität,
als neues Maß und bevorrechtigte Instanz zu setzen. "Wilde"
oder "Primitive", Arbeitsscheue, Unmoralische, Verrückte,
Kinder und Frauen sanken dann auf den Status von zu Bevormundenden, zu
Disziplinierenden, zu Therapierenden herab.
So glaubte schon der Erzaufklärer Voltaire, wie noch die Ethnologen
des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das Geheimnis der offenbaren Fremdheit
"primitiven" Denkens (bei der eingeborenen Bevölkerung
in den französischen Kolonien) entschlüsseln zu können,
indem er eine Entwicklung von den "ersten Stadien der Dummheit",
auf denen sich afrikanische Stämme noch befänden, hin zur "ausgebildeten
Vernunft der Europäer" konstruierte: bürgerliche Ideologie.
Im 19. Jahrhundert erfuhr dieses Modell eine interessante und folgenreiche
Weiterentwicklung: es entstand die Vorstellung, daß es solcher gattungsgeschichtlichen
Progression entsprechend - die sich im Erwachsenwerden des Einzelwesens
wiederhole - auch die Möglichkeit der Regression gebe und daß
hierin der Schlüssel für all jenes Denken und Handeln zu suchen
sei, das von der Norm des zivilisierten, ökonomisch und machtpolitisch
effizienten europäischen Mannes abweiche.
Man konnte es z.B. mit dem bekannten und einflußreichen englischen
Neurologen John H. Jackson so sehen, daß das Gehirn, stammesgeschichtlich
aus unterschiedlich alten Teilen bestehend, streng hierarchisch aufgebaut
sei, wobei die jüngsten, die moderne Rationalität verkörpernd,
die älteren, triebbestimmteren in Schach hielten, und daß "primitives",
psychopathisches, kindliches, weibliches... Denken sich dadurch von der
Norm unterscheide, daß diese Herrschaft gestört sei: hier habe,
mit dem ganz ähnlich denkenden Freud zu sprechen, das Lust- gegenüber
dem Realitätsprinzip die Oberhand gewonnen und seien wahnhaften Einbildungen
die Tore geöffnet.
Auf dem Hintergrund des sich heraubildenden Sozialdarwinismus war normabweichendes
Denken und Leben der Fremdheit entkleidet und in eine abwertende Rangordnung
gebracht. Es war "logisch" geworden, in allem, was den Kriterien
westlicher, kapitalistischen Verhältnissen gemäßer Rationalität
widersprach, etwas Anzupassendes, vielleicht zu Erziehendes oder zu Therapierendes,
ungünstigenfalls Auszumerzendes zu sehen. Die Umsetzung in die Tat
ließ nicht auf sich warten: lange vor der Naziherrschaft schon traf
es die Kolonisierten (der erste deutsche Völkermord war der an den
Hereros begangene: unter Umständen, die in vielen Punkten die Vernichtungsmaschinerie
des "Dritten Reiches" vorwegnahmen), die Geisteskranken - und
andere, die sich nicht einfügen konnten oder wollten, sich nicht
nutzbar machen ließen: Modernisierungs- und Industrialisierungsgeschädigte
und -verlierer.
Ein Vorspiel der Vernichtung
Ein frühes, sehr aufschlußreiches, hierzulande
wenig bekanntes Beispiel hierfür liefert das Schicksal der Ishmaeliten,
eines stammesartigen Zusammenschlusses von heimatlos gewordenen Indianern,
entlaufenen Negersklaven und an der Schuldknechtschaft gescheiterten weißen
Siedlern, der Ende des 18. Jahrhunderts in Kentucky entstanden war.
Die Ishmaeliten lebten zunächst nomadisch, jagend und fischend, jenseits
der Westgrenze, in einer anscheinend relativ herrschaftsfreien, lockeren
Gesellschaftsform, in der auch Frauen den Ton angeben konnten. Als die
Westgrenze über sie hinweggegangen war, wurden sie zum Sozialfall:
in Konflikte mit der staatstragenden Bevölkerung verwickelt, weil
sie den Kirchgang verweigerten, verfolgt wegen Bettelei, Diebstählen,
Prostitution, eingeliefert in Krankenhäuser und Gefängnisse,
arbeitslos. Man machte sie zum Musterbeispiel für biologische Degeneration
und zum Gegenstand "eugenisch" begründeter Aussonderung:
von Asylierung, Zwangsadoption, schließlich Zwangssterilisierung
- mit dem Erfolg, daß sie kurz nach Beginn unseres Jahrhunderts
ausstarben. Die ersten Gesetze zur - auch erzwingbaren - Sterilisation,
an die dann auch die Nazis anknüpfen konnten, sind in diesem Zusammenhang
entstanden.
Wirtschaftsplanung als Enteignungs- und Vertreibungsinstrument:
Ludwig Erhard unter den Nazis
Ein Wechsel der Perspektive vermag die bisherigen Befunde
zu ergänzen. Erschreckend nahe an der "Normalität"
erscheinen die Verbrechen der Nazizeit nicht nur, wenn man sie auf ihre
bürgerliche Vorgeschichte projiziert, sondern auch, wenn man sie
von der frühen Bundesrepublik aus beleuchtet, was in einem Beitrag
dieses Buches unter wirtschaftspolitischem Aspekt geschieht.
Der Zweite Weltkrieg wurde entscheidend ja auch geführt, um "Lebensraum"
für das eigene "Volk" auf Kosten anderer Völker zu
gewinnen: auch dies bekanntlich keine spezifische Nazi-Idee; von der theoretischen
Rechtfertigung war gerade die Rede: die höherwertige, nach vorn strebende,
sich selbst weiterveredelnde "Rasse" sollte es sein, die das
von "Minderwertigen" besiedelte Land mit dem Recht des Stärkeren
in Besitz zu nehmen hatte. Dazu bedurfte es einer rigorosen ökonomischen
und wirtschaftsräumlichen Planung, die davon ausging, daß die
eroberten Gebiete und deren Bevölkerung dem planenden Zugriff bedingungslos
zur Disposition standen und damit das Verdrängen von Menschen als
unverrückbare Gegebenheit voraussetzte. Dabei ist es nun interessant
zu sehen, wie der "Vater" des späteren "Wirtschaftswunders"
mit großer Eilfertigkeit und viel Erfolg die eroberten Gebiete bereiste,
Gutachten über Gutachten anfertigte und so dem Regime hochwillkommene
Beratungsdienste leistete. Wichtig für unseren Zusammenhang: Ludwig
Erhard war eben kein eifriger Nazi, er hat sich nicht zu den Juden, den
größten Leidtragenden der Ostkolonisation, geäußert,
und er hat im Vergleich zu anderen moderate Vorstellungen zum Umgang mit
der polnischen Bevölkerung vertreten. Er hat lediglich wie schon
zu Zeiten der Weimarer und dann wieder der Bonner Republik mit Elan und
Engagement eine hohe fachliche Kompetenz zur Verfügung gestellt -
nur eben zwölf Jahre lang, ohne erkennbare Skrupel, im Dienste einer
Maschinerie, die Menschen zu Objekten machte, nach Belieben enteignete,
verschob, ausbeutete, umbrachte.
Halbierte Aufklärung - deutscher Sonderweg in die Moderne
Nimmt man dies mit den Befunden zur Ausgrenzung der Abweichenden,
zu Rassenhygiene und "Euthanasie" zusammen, so wird deutlich,
wie das Zusammengehen von christlich-abendländischer Tradition und
Aufklärung mit tiefster Inhumanität interpretiert werden kann.
Aufklärung, das kann nämlich bedeuten: eine Moderne hervorbringen,
die unter dem Imperativ universaler Mach- und Planbarkeit steht und deren
entscheidendes Kriterium "Effizienz" heißt; in Prozessen
so angelegter Modernisierung entschlägt Rationalität sich aller
Fesseln und Grenzen, um technische Beherrschung der Natur, der menschlichen
Lebenswelt, des lebendigen Körpers und der Seele zu immer größerer
Perfektion zu treiben. Würde, Lebens- und Glücksanspruch des
einzelnen Menschen stehen zur Disposition.
Freilich bedeutet Aufklärung auch noch etwas ganz anderes: die Fähigkeit
und die Bereitschaft der Vernunft, sich selbst der Reflexion zu unterwerfen,
die eigenen Grenzen zu ahnen, das zu respektieren und mit Entwertung zu
verschonen, was mit westlich-neuzeitlich-kapitalistischer Rationalität
nicht zu vereinbaren ist; aus der Endlichkeit des Menschen und aller seiner
Anstrengungen die Konsequenz ziehen zu können, daß Erlösungen
nicht möglich sind, daß Unzulänglichkeit und Leid nicht
restlos beseitigt werden können; die Würde und die Rechte des
einzelnen so ernst zu nehmen, daß sie einem Wert wie dem des kollektiven
Nutzens nicht untergeordnet werden können.
Besonders in Deutschland ist diese Seite der Aufklärung, ohne die
Modernisierung in autoritärem, menschenverachtendem Totalitarismus
mündet, in bemerkenswerter Weise entwickelt worden, und zwar von
Anfang an, was hier nur die Namen Kant und Lichtenberg bezeugen sollen;
und noch in unserm Jahrhundert ist diese andere, die selbstreflexive und
human orientierte Seite der Aufklärung gerade bei den Deutschen präsent
gewesen - so in der pädagogischen Institution des Gymnasiums, das
trotz seines unverkennbaren bürgerlichen Klassengepräges aus
unmittelbaren Zweck-Mittel- und Kosten-Nutzen-Relationen herausgenommen
war und - der bekannten meist eher tristen Alltagsrealität und einer
charakteristischen Subalternität unbeschadet - in beachtlicher Autonomie
der Entfaltung der Einzelpersönlichkeit verpflichtet blieb. Aber
wie die Hochschulen, die andere Bildungsinstitution humanistisch-Humboldtscher
Prägung, waren die Gymnasien mit als erste und nahezu widerstandslos
bei der Hand, als es galt, den inhumanen, vernunftfeindlichen Zeitgeist
in sich aufzunehmen.
Ähnliches gilt von den Ärzten, einem Stand, der aus diesem Gymnasium
kam und in seinem Selbstverständnis auf Sorge um Gesundheit und Leben
des einzelnen Individuums, auf die Bereitschaft zu "helfen"
gegründet sein müßte: tatsächlich strömten sie
wie keine anderere Berufsgruppe in die NS-Organisationen.
Sieht man einmal von dem Klasseninteresses ab, das hier unverkennbar durchschlägt,
dürfte diese Widersprüchlichkeit ohne Besonderheiten der deutschen
Mentalität, die wiederum in Besonderheiten der deutschen Geschichte
gründen, nicht zu erklären sein. Gerichte, die in den sechziger
und siebziger Jahren des Mordes angeklagte Ärzte und Psychiater lieber
entschuldigten als zur Verantwortung zogen, haben wohl an einen tatsächlich
bestehenden Zusammenhang gerührt, wenn sie etwa anführten, der
jeweils Beschuldigte, aus einem Beamtenhaushalt stammend und nationalsozialistisch
erzogen, habe
"mit dem unbedingten Glauben an die Gesetzmäßigkeit
hoheitlichen Gebarens"
nicht einsehen können, daß "das ihm befohlene"
Tun rechtswidrig sei; er sei
"als Staatsbeamter von seinem Vorgesetzten zu seinem
Tun angewiesen worden".
In den Verbrechen des "Dritten Reiches" schlug
sich auch nieder, daß der Weg der Deutschen in die Moderne nicht
von der Entwicklung einer freiheitlichen Kultur begleitet, sondern Sache
eines Obrigkeitsstaates gewesen war, der die Interessen der feudalen Eliten
und eines nach diesen schielenden, die Verschmelzung mit ihnen suchenden,
seinerseits mehr autoritär als demokratisch gesonnenen Besitzbürgertums
vertrat. Es fehlte die kollektives Bewußtsein grundlegend modifizierende
(recht eigentlich "moderne"!) Erfahrung, daß die Unterdrückten
die Herrschenden auch stürzen und wegjagen können; so sind Selbständigkeit
des Denkens, Eigenwille, Zivilcourage und auf der Kehrseite hiervon Toleranz
und Offenheit für das Fremde keine deutschen Tugenden geworden, wohl
aber Selbstdisziplin und Orientierung an Effizienz, technologischer Eifer
und Machtbewußtsein, Konformismus, Opfer- und Unterordnungsbereitschaft,
ein opportunistisches Pflichtgefühl und dünkelhafte Gesinnung
dem Andersartigen gegenüber.
Nicht Vergewaltigung der Medizin durch die Politik, sondern Komplizenschaft
Für die Bereitschaft von Ärzten, sich an Verbrechen
zu beteiligen, spielen nationalsozialistische Propaganda wie auch obrigkeitlicher
Druck eine bedeutende und anerkannte Rolle. Daß beides zur Erklärung
nicht ausreicht, wird schlagend deutlich, sobald die Details der Geschehnisse
in den Blick geraten.
Um mit der Verfolgung der Sinti und Roma zu beginnen: sie wurde von Reichspolizei
und SS veranlaßt, aber mit der Maßgabe, sich bei Erfassung
und Selektion der Opfer streng an wissenschaftliche Gutachten zu halten.
Gemeinsamer Bezugspunkt waren jene "rassenhygienischen" Vorstellungen,
die Fischer, Baur und Lenz entwickelt hatten und die einerseits in "Mein
Kampf" eingegangen, andererseits Gemeingut - wenn auch nicht unumstrittenes
- einer ganzen akademischen Zunft geworden waren.
Zum Hauptaktivisten einer gutachterlichen Aktion, der am Ende viele tausend
Menschen zum Opfer gefallen waren, wurde ein zwei Doktortitel führender
Psychiater, der sich mit seinen Ideen zur Erfassung und Eliminierung der
"rassisch minderwertigen" und so die Hygiene des Volkskörpers
angeblich gefährdenden Zigeuner auf internationalen Kongressen sowie
in seriösen Fachzeitschriften hervortat und erfolgreich Anträge
zur Finanzierung seiner Arbeit bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft
stellte. Zusammen mit seiner nicht weniger unermüdlichen Assistentin
führte dieser Mann keineswegs bloß aus, was ihm aufgetragen
wurde, er verfolgte sein eigenes Forschungs- und Reinigungsinteresse,
und er tat es mit beträchtlicher Energie und aus starkem eigenem
Antrieb. Als ihm 1950 der Prozeß gemacht werden sollte, konnte er
erklären,
"daß er jeglichen radikalen Rassendoktrinen
der Nazizeit abhold gewesen sei, Gewaltmaßnahmen abgelehnt und
seine Aufgabe als Wissenschaftler darin erblickt habe, die schwere Problematik
des Zigeunergeschlechts auf wissenschaftlicher Basis in einer den Idealen
der Humanität gerecht werdenden Weise zu lösen",
was zur Einstellung seines Verfahrens führte.
Vergleichbares geschah Anfang der sechziger Jahre, als es um die Entschädigung
der 400.000 Zwangsterilisierten ging und zur erfolgreichen Abwehr das
Argument aufgeboten wurde, es habe sich bei diesen Eingriffen um gar nichts
spezifisch Nationalsozialistisches gehandelt: die Diskussion sei älter
und würde auch ohne Hitler zu einem entsprechenden Gesetz geführt
haben usw.
Die praktische Durchführung des Gesetzes zeigt in der Tat, daß
die Bereitschaft, dieses Unrecht zu ermöglichen und auszuführen,
tief und breit verwurzelt war: noch 1933, unmittelbar nach Verkündung
des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", begannen
die Gesundheitsbehörden unter Außenseitergruppen gezielt nach
"Erbkranken" zu suchen: auch unter Sozialhilfeempfängern,
Sonderschülern, Häftlingen... Den neu geschaffenen Erbgesundheitsgerichten
zeigten die Ärzte mutmaßliche Erbkranke, die Anstalten ihre
"leichteren Fälle" an; entschieden wurde oft rein aufgrund
der Akten - alles Zeichen einer über Willfährigkeit hinausgehenden
breiten Kooperationsbereitschaft.
Wenn Professor Ernst Rüdin - ein schon zur Zeit der Weimarer Republik
international anerkannter Ordinarius - 1939 die 5. Jahresversammlung der
Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater mit den Worten eröffnete,
sie, die Psychiater, seien es gewesen, die
"Staat und Partei auf die ungeheuren
Erbgefahren aufmerksam gemacht"
hätten, dann hatte er auf seine Weise durchaus recht, und wenn er
die "Großtat des deutschen Volkes" rühmte,
"daß es sich dieser Einsicht nicht verschlossen
hat, sondern tatkräftig zur Bekämpfung dieser Gefahren übergegangen
ist",
dann bezeichnete er präzis die keineswegs einseitige
Beziehung zwischen Politik und Psychiatrie: so gewiß Hitler Fachleute
brauchte, um seine Vorstellungen von Rasse und Volksgesundheit durchzusetzen,
so gewiß brauchten Fachleute ihn, um an das Ziel ihrer Wünsche
zu gelangen.
Mit Kriegsbeginn nahm das Sterben in den Anstalten dramatisch zu, "legitimiert"
durch Hitlers den "Gnadentod" freigebenden Erlaß von 1939
("Aktion T4"). Das (kriegs-ökonomische) Motiv trat gegenüber
dem "rassenhygienischen" immer mehr in den Vordergrund. Es ging
jetzt darum, Ärzte für den Fronteinsatz, Anstaltsraum für
Lazarette, Mittel zur Ermöglichung des "totalen Krieges"
freizubekommen. Opfer wurden auch Tbc-Kranke und invalide "Fremdarbeiter"
aus den eroberten Gebieten.
Nun war auch dieses Motiv keineswegs neu: schon zu Zeiten des Ersten Weltkrieges
waren wegen "kriegsbedingter" Einschränkungen die Sterbezahlen
in den Anstalten in die Höhe geschnellt, auch während der Weimarer
Republik waren, bedingt durch wirtschaftliche Krisen, die Pflegesätze
gekürzt worden, was ebenfalls die Todeszahlen ansteigen ließ:
das Morden war vorbereitet durch Desintegration der Patienten und zunehmende
Bereitschaft, ihre Diskriminierung hinzunehmen.
Wie entwickelten sich nun die medizinischen Disziplinen selbst, denen
so umfangreiche neue Betätigungsfelder zugewachsen waren? Verkamen
sie durch ihre inhumane Praxis, sanken sie ins Dilettantische ab, wie
das für Pseudoforschungen gewisser KZ-Ärzte bekannt geworden
ist?
Eher ist das Gegenteil der Fall. Meinungsführer wie der schon genannte
Ernst Rüdin forderten gerade im Hinblick auf die "Euthanasie"
eine reformierte Psychiatrie; der wissenschaftliche Anspruch wurde heraufgesetzt,
und zwar ohne jeglichen Verzicht auf die mörderische Zielsetzung.
So muß den berüchtigten Heidelberger Forschungen Carl Schneiders
an schwachsinnigen Kindern attestiert werden, daß sie sich einer
Vielfalt von Methoden bedienten und auf der Höhe des Forschungsstandes
waren. Schneider wollte eine zuverlässige Differenzierung zwischen
endo- und exogenen Schwachsinnsformen sowie zwischen heilbaren und nicht
heilbaren Patienten ermöglichen, und so veranlaßte er einerseits
sorgfältige erbbiologische Untersuchungen der Familien und unterzog
andererseits die Patienten einer Vielzahl von Experimenten: er spritzte
Adrenalin, ließ Pneumoencephalographien vornehmen, testete die Kinder
durch Erschrecken und plötzliches Untertauchen, beobachtete sie im
sogenannten "Schimpansengarten":
"Kind sitzt hinter einem Gitter. Wird ihm ein Stück
Zucker geboten so sperrt es den Mund auf [...]. Neben dem Kind liegt
ein Stöckchen. L. nimmt es beim Hinweisen auf, aber in den Mund.
Eine Verwendung als Werkzeug kommt nicht in Frage."
Schließlich wurden die Versuchskinder, denen man
keine Aussichten auf Besserung zubilligte, umgebracht, wobei Schneider
sich die Gehirne sicherte, um die vorausgegangenen Untersuchungen durch
einen neuropathologischen Befund komplettieren zu können. So entstand
in Heidelberg eine reichhaltige Gehirnsammlung; an solchen Sammlungen
ist noch viele Jahre nach Kriegsende bedenkenlos weitergeforscht worden.
Die Bereitwilligkeit der Helfer: Pflegerinnen und Pfleger
Der sogenannten Euthanasie sind in Deutschland etwa 150.000
kranke, behinderte, unangepaßte Menschen zum Opfer gefallen. Die
entfesselte Grausamkeit, wie Goldhagen sie für die Vernichtung der
Juden erschütternd belegt, findet man hier noch nicht; das Bezeugte
ist schrecklich genug:
"Manche Kranke versteckten sich, wenn die Omnibusse,
die sie abholen sollten, vor den Anstalten ankamen oder klammerten sich
an Pflegepersonen oder Gegenständen fest und mußten dann
gewaltsam in die Omnibusse gezerrt werden. Dem Transportpersonal standen
zu diesem Zweck Handschellen zur Verfügung. Manche schrien und
warfen sich vor dem Pflegepersonal auf die Knie oder weinten und riefen,
sie wollten noch nicht sterben."
Wie war es möglich, die vielen Helferinnen und Helfer
zusammenzubringen bzw. zur Mitarbeit zu gewinnen, die man allein unter
dem Pflegepersonal der Anstalten benötigte, um so etwas durchführen
zu können?
Daß es unter Zwang geschah, ist widerlegt, die zur nachträglichen
Entschuldigung vorgebrachte Befürchtung, bei einer Verweigerung der
Teilnahme an "Euthanasie"-Aktionen selber ins KZ zu kommen,
als weitgehend unglaubwürdig erwiesen: jedenfalls gibt es keinen
einzigen Fall, in welchem solches wirklich geschehen wäre. In Wahrheit
haben die Pflegerinnen und Pfleger kaum je Widerstand geleistet, sondern
reibungslos funktioniert: die Nahrung entzogen, Transporte begleitet,
Spritzen gesetzt usw.
Wurde das dadurch erreicht, daß eine geeignete Personalpolitik eben
die richtigen Leute an die richtige Stelle brachte, oder wurde das Pflegepersonal
in besonderer Weise indoktriniert? Beides ist richtig und falsch zugleich.
Falsch wie die Legende vom Zwang ist jedenfalls die ebenso naheliegende
Vorstellung, die am Krankenmord beteiligten Pflegerinnen und Pfleger seien
eben besonders aktive "Nazis" gewesen oder zu solchen gemacht
worden.
Die Erziehung des Pflegepersonals, ablesbar in der berufsständischen
Fachzeitschrift "Die Geisteskrankenpflege", ging andere Wege.
Zwar drangen Elemente der Nazipropaganda in das hier vor-entworfene Selbstbild
des Pflegers mit ein, aber so, daß es mit den humanen Prinzipien
herkömmlicher Berufsethik vereinbar schien. Einerseits:
"Wir müssen die beinahe Tradition gewordene Einstellung auf
den einzelnen krank gewordenen Menschen aufgeben und uns dem viel bedeutungsvolleren
Problem der Betrachtung des ganzen Volkes zuwenden."
Andererseits wurde daran festgehalten, daß der Beruf
der Pflege von Geisteskranken in besonderer Weise der Barmherzigkeit,
der Hingabe, des Einfühlungsvermögens usw. bedürfe: das
Wohl des einzelnen Kranken hatte weiterhin im Zentrum der pflegerischen
Tätigkeit zu stehen. Interessant ist, wie begründet wurde, daß
der Selbstmord von Patienten auf jeden Fall verhindert werden müsse:
der könne zwar im Sinne der Erhaltung der Art - "eugenische"
Perspektive - an sich wünschenswert sein, über dergleichen dürfe
aber keinesfalls im pflegerischen Bereich entschieden werden.
Demnach ging es nicht darum, das Pflegepersonal zu Nazis zu machen, im
Gegenteil: statt für Überzeugungen einzutreten, sollte es reibungslos
und professionell seine Pflicht tun. Wenn das Erziehung zu der Bereitschaft
beinhaltete, sich an Mordaktionen zu beteiligen, dann eher insofern, als
selbständig-eigenwilliges Verhalten weggeschliffen, jenes autoritäre
aber befestigt werden sollte, das der Sonderweg der Deutschen in die Moderne
ohnehin gut ausgeprägt hatte.
Zu einem ähnlichen Resultat gelangt man bei Betrachtung der Personalpolitik.
Die zuständigen Leiter nutzten das Instrument des "Gesetzes
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" in den Anstalten dazu,
sich die Pflegerinnen und Pfleger vom Hals zu schaffen, die auffielen,
den Betriebsfrieden störten, das Ansehen des Instituts gefährdeten,
häufig fehlten - zugunsten derer, die reibungslos funktionierten.
Aus diesem Kreis rekrutierten sich dann die willfährigen Beihelfer:
ganz normale Deutsche.
Im Wildwuchs der Zuständigkeiten und Ermächtigungen: die
Verantwortlichen vor Ort
Daß Pflegerinnen und Pfleger initiativ wurden, war
also nicht im Sinne des Systems. Es waren Ärzte, die Hungerkost und
Giftspritzen anordneten, qualvolle Versuche mit tödlichem Ausgang
durchführten, Gehirne bestellten und für die Gaskammern selektierten
- dies alles, ohne auch nur in einem einzigen Fall dazu gezwungen worden
zu sein. Für die Frage ihrer Verantwortlichkeit ist von entscheidender
Bedeutung, welchen Handlungsspielraum sie hatten, und der wiederum hängt
von dem Maße ab, in dem das System, in das sie eingespannt waren,
zentralisiert und hierarchisch durchorganisiert war. Die entlastende Legende
besagt, daß sie bloß unbedeutende Rädchen waren, die
weniger bewegten als selber bewegt und ferngesteuert wurden.
So war es jedoch nicht. Entgegen dem Schuld auflösenden Bild einer
perfekten Orwellschen Staatsmaschine hat es sich bei diesem "Dritten
Reich" trotz aller zentralistischen Bemühungen in vielen Bereichen
um ein eher chaotisches Gebilde gehandelt, gekennzeichnet auch durch Kompetenzwirrwarr
und Willkür. Anstaltsforschung kann zeigen, wie über Jahre hinweg
Patientenverlegungen hin und zurück vorgenommen, Bauten errichtet
und zum Spott der Bevölkerung halbfertig stehengelassen wurden usw.
Tatsächlich überschnitten sich gegenläufige Planungen,
waren Zuständigkeiten unklar - mit dem Effekt, daß einerseits
vieles ins Leere lief, andererseits Raum für Handeln auf eigene Faust
entstand.
Große regionale Unterschiede sowie solche zwischen den einzelnen
Anstalten blieben bestehen; im Einzelfall konnte ein energischer Leiter
sich dafür stark machen, daß in "seiner" Anstalt
so etwas wie "Vernichtung unwerten Lebens" nicht in Frage komme.
Zu solchen Ausnahmen paßt aber komplementär, daß schon
vor Beginn der zentralen Aktion "T4" eine in die Tausende gehende
Anzahl von Patienten in alleiniger regionaler Verantwortung getötet
wurde, und als in der zweiten Phase des "Euthanasie"-Mordens
nur noch dezentral selektiert und tödliche Behandlung angeordnet
wurde, kamen die unterschiedlichsten, oft ganz persönlichen Motivationen
zum Zuge: das Schicksal des einzelnen Patienten hing jetzt weitgehend
davon ab, in wessen Hände er zufällig geriet.
In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf Hitlers auf den 1. 9. 1939,
also den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Tötungserlaß
zurückzukommen. Wenn es hier heißt, daß der "Gnadentod
gewährt" werden könne, so heißt das natürlich
einerseits, daß getötet werden solle. Andererseits ist die
Ausführung im konkreten Fall aber ins Ermessen des jeweils Zuständigen,
also in der Regel des Arztes, gestellt: es handelt sich um eine Ermächtigung.
Hier wird ein Prinzip nationalsozialistischer Herrschaftsausübung
deutlich. Diejenigen, die das Verbrechen ausführen sollten, wurden
weder gezwungen noch wurde ihnen Verantwortung abgenommen noch wurden
Konflikte mit ihnen riskiert. Sie wurden mit Macht ausgestattet: sie würden
das Erwartete tun, aber nicht ohne eigenen Antrieb: sei das nun, dem volkshygienischen
Fortschritt, dem reibungslosen Klappen des Betriebs oder der eigenen Karriere
zu dienen. Damit war ein System geschaffen, das die einzelnen Täter
stärker in das gesamte Unternehmen involvierte, als es die konkrete
Anweisung gekonnt hätte: ein System autoritärer Komplizenschaft,
in das immer mehr Ärzte hineingezogen wurden, indem man sie zu Entscheidungen
über Leben und Tod ermächtigte.
Sie waren keine Marionetten, sondern sie hatten Freiheit, Spielraum für
Engagement und eigene Initiative, und den nutzten sie: sie waren Täter
und für das, was sie taten, verantwortlich.
Zivilisationsbruch / Widerstand als Ausnahme
So läßt sich Punkt für Punkt die Haltlosigkeit
der Vorstellung demonstrieren, die im "Dritten Reich" an wehrlosen
Menschen begangenen Verbrechen erklärten sich aus "dem Nationalsozialismus",
einem aufgetauchten und wieder verschwundenen Phänomen. Es zeigt
sich aber auch, daß alle monokausalen Erklärungen ihr Ziel
am Ende verfehlen: die inhumanen Tendenzen einer auf Verfügungsmacht
reduzierten Aufklärung lassen sich in allen Ländern der westlichen
Zivilisation beobachten; die autoritäre, Subalternität mit sich
führende deutsche Tüchtigkeit wiederum, ohne die das Regime
weder erfolgreich gewesen wäre noch sich gehalten hätte, hat
nicht immer zu Verbrechen geführt. Ähnliches gilt für die
allenthalben durchschlagenden ökonomischen Interessen, für die
Ausnahmesituation des ja auch nach innen "totalen" Krieges usw.
Selbst die scheinbar alle Faktoren umfassende Vorstellung eines "Systems",
zu dem sich dies alles - unter besonderen Umständen sowie katalysiert
durch einen charismatischen Führer und eine effektive Propaganda
- zusammengeballt hätte, reicht nicht zur Erklärung aus: hinter
diesem Bild verschwindet die Unzahl der einzelnen Täter und Komplizen,
die das, was sie getan haben, nicht nur hätten lassen oder anders
machen können, sondern oft genug auch ihre eigenen Zwecke dabei verfolgt
haben.
Vielleicht kann man auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner für
das, was die Geschehnisse ermöglichte, bei gebotener Vorsicht nur
soviel sagen: unter dem Einfluß der vielen und heterogenen Faktoren,
die zusammenspielten, haben die Deutschen sich einer grundlegenden zivilisatorischen
Errungenschaft entschlagen: jener Kultur einfachster Mitmenschlichkeit,
ohne welche die Menschen, wie es aussieht, das Schlimmste zu tun oder
doch zu dulden bereit sind.
Daß sie damit nicht einfach zu Unmenschen geworden waren, zeigt
das Beispiel der Passanten, die in lautes Weinen und spontanen Protest
ausbrachen, als sie unvermittelt Zeugen der gewaltsamen Abtransporten
wurden. Trotz eines überallhin durchdringenden Wissens ist es dennoch
zu keinem nachhaltig erfolgreichen Widerstand gekommen.
In diesem Zusammenhang sind die Ausnahmen von Interesse, so die des Erzbischofs
von Münster, des Grafen Galen, der in seiner Predigt am 3. August
1941 das Töten in den Psychiatrien an den öffentlichen Pranger
stellte:
"[...] Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende
Verdacht, daß diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von
Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt
werden, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe
so genanntes 'lebensunwertes Leben' vernichten, also unschuldige Menschen
töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts
mehr wert. [...] Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß
man den 'unproduktiven' Mitmenschen töten darf, dann [...] wehe
unseren braven Soldaten, die als Schwerverletzte, als Krüppel,
als Invaliden in die Heimat zurückkehren.[...]"
Aus heiterem Himmel kam dieser Protest, der dann tatsächlich
zum vorläufigen Aussetzen der "Aktion T4" genötigt
hat, nicht: trotz aller Propaganda war die Bevölkerung für die
"Euthanasie" nie recht zu gewinnen gewesen, schon gar nicht
die Angehörigen, ja es war eine Beängstigung entstanden, in
der auch geistig gesunde Menschen sich Reihenuntersuchungen entzogen,
weil sie die Selektion als unproduktive Volksgenossen fürchteten.
So gibt der Widerstand gegen die "Euthanasie" zwar Anlaß,
die oben formulierte These, daß eine Kultur von Mitmenschlichkeit
verlorengegangen sei, dahingehend zu relativieren, daß es einzelne
gegeben hat, die integer geblieben sind, und viele, die sich ein unmittelbares
Mitempfinden bewahrt hatten und selbst Angst bekamen; er bestätigt
aber die These in ihrem Kern: Einfachste Mitmenschlichkeit war als kollektive
Selbstverständlichkeit verlorengegangen, sie fehlte als Bestandteil
einer Öffentlichkeit einschließenden republikanischen Kultur.
Sonst wären die "ganz normalen" Deutschen nicht zu jederzeitiger
Duldung oder Komplizenschaft bereit gewesen, hätten die vielen Betroffenen
und Mitleidenden sich zu Taten zusammengeschlossen.
Die Nazis konnten nicht machen, was sie wollten, der "Führer"
war nicht allmächtig, "das System" war verwundbar: samt
dem, was angeordnet und praktiziert wurde, von einer Akzeptanz der Bevölkerung
abhängig, die sie auch besaßen.
"Euthanasie" und Rechtsprechung nach 1945
Der Entlastungsmythos der Deutschen will wahrhaben, daß
es mit dem Unheil 1945 schlagartig vorbei war. Wie war es, bezogen auf
die in diesem Band verhandelten Themen, wirklich? Wurden die Täter
angemessen bestraft, die Opfer gewürdigt und nach Kräften entschädigt,
kam es zu selbstkritischer Reflexion und zum Bruch mit den Traditionen,
deren Inhumanität jetzt schreiend erwiesen war?
Als wenige Monate nach Kriegsende der deutsche Justizapparat wieder in
Gang gesetzt war, wurden die "Euthanasie"-Verbrechen in zahlreichen
Prozessen durchweg als "Mord" qualifiziert: die betreffenden
Ärzte hätten in eigener Verantwortung, aus niedrigen Beweggründen
und heimtückisch gehandelt. Todesurteile wurden gefällt und
vollzogen. Offensichtlich sollte der Bruch deutlich markiert werden, den
man mit der nationalsozialistischen Vergangenheit machen wollte, wie auch
der Bruch, den der Faschismus und eine willfährige Justiz seit 1933
mit den Normen des Weimarer Rechtsstaates vollzogen hatten.
Wenige Jahre später setzte sich in den Westzonen der Trend durch,
nur auf Beihilfe zu Mord oder gar nur Totschlag zu erkennen, Verbotsirrtum
und mildernde Umstände gelten zu lassen. So trat im Laufe der Etablierung
unseres Gemeinwesens Distanzierung zurück gegenüber Identifizierung:
zwar nicht mit den Taten, wohlgemerkt (daß "Euthanasie"
objektiv Mord sei, ist nicht bestritten worden), aber mit den Tätern:
mit ihren sozialisationsbedingten Grundeinstellungen, ihrem beruflichen
Ethos, ihrer Auffassung von Wissenschaft, dem Fremdbestimmt-"Tragischen"
ihrer Situation. So gewann die Vorstellung Oberhand, daß nur ein
engerer Kreis von Hauptverantwortlichen die Verbrechen begangen habe und
für diese geradestehen müsse; die Deutschen wie du und ich:
sie waren getäuscht, verführt und verstrickt worden... - was
umgekehrt nicht weniger bedeutet, als daß unterhalb der Ebene, auf
der die Regimes gewechselt hatten, jener breiten Strom von Koninuität
Akzeptanz gewann, der die Bundesrepublik mit dem "Dritten Reich"
verbindet.
Keine Opfer des NS-Unrechts? Die Nicht-Anerkennung der Zwangssterilisierten
Daß man sich wenigstens von den Taten distanziert
hätte, gilt uneingeschränkt schon nicht mehr, sobald man sich
auf die Ebene unterhalb der Kapitalverbrechen begibt.
In der Anfang der sechziger Jahre geführten Debatte um die - am Ende
ausgebliebene - Entschädigung der Zwangssterilisierten wird deutlich,
daß man eher bereit war, das damals Geschehene abzusegnen und die
Opfer zu diffamieren, als die Bundesrepublik den Anschluß an "normale"
Entwicklungen verpassen zu lassen.
Die Identifizierung mit den Tätern war 1961 bereits so weit fortgeschritten,
daß Gutachter offiziell geladen wurden, die ihre eigenen "guten
Erfahrungen" mit Sterilisationsverfahren im Nationalsozialismus einbrachten
und schon wieder von "unwertem Leben" sprachen, das es (nun:
nicht zu vernichten, wohl aber) rechtzeitig zu verhindern gelte.
Was die Taten betrifft, so wurde alles versucht, die Möglichkeit
der Zwangssterilisation als etwas im Grunde Vernünftiges darzustellen,
den Eingriff und seine Folgen zu verharmlosen und die Betroffenen selbst
eher abzuqualifizieren. Tatsächlich sollte im Zuge der Strafrechtsreform
in den sechziger Jahren die Sterilisation aus medizinischen und eugenischen
Gründen wieder zugelassen werden; diese Anknüpfung an etwas,
das der NS-Staat ermöglicht hatte, wäre aber gestört worden,
hätte man den Unrechtscharakter des den Zwangssterilisierten bereiteten
Schicksals und diese selbst als Verfolgte anerkannt.
So haben die Opfer die Kosten deutscher Normalisierung tragen müssen,
und es wurde die Chance vertan, aus der Rückbesinnung auf die eigene
Geschichte Maßstäbe für die Achtung des körperlich
und seelisch Benachteiligten, seiner personalen Eigenständigkeit,
seines Selbstbestimmungsrechts, seiner Menschenwürde zu gewinnen;
Maßstäbe auch für die Sorgsamkeit, die im Umgang mit dem
ungeborenen Leben und denen, die es hervorbringen sollen, geboten ist.
Angesichts dessen, wie in diesen Problembereichen heutigentags die Weichen
gestellt werden (pränatale Diagnostik, Retortenkinder usw.), springt
die Gefahr ins Auge, daß auch, weil historische Erfahrung zurückgewiesen
wird, sich jene Tendenzen wieder unreflektiert durchsetzen können,
die auf Machbarkeit, Funktionstüchtigkeit und ökonomischen Vorteil
fixiert sind.
Experimente mit Geisteskranken? Nachgeschichte
und aktuelle bioethische Diskussion
Ähnliche Befürchtungen drängen sich auf,
untersucht man die seit 1945 anhaltende Diskussion über Experimente
an Patienten, die nicht mehr selbst einwilligen können.
Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen "Euthanasie"
und der medizinischen Menschenversuche in den Konzentrationslagern verfügt
der Nürnberger Kodex von 1947:
"Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson
ist unbedingt erforderlich. Das heißt, daß der Betreffende
die gesetzmäßige Fähigkeit haben muß, seine Einwilligung
zu geben."
Das grenzt sich ab vom Opfergedanken:
"[...] wenn das ganze Volk in Lebensgefahr schwebt
und durch Beseitigung einzelner Individuen gerettet werden kann, dann
müssen diese Individuen geopfert werden [...] Die Einsichtigen,
in der Erkenntnis des Zusammenhangs Befindlichen, sind dann berechtigt
und verpflichtet, diese Opfer zu erzwingen, also zu töten. [...]
So wie die Amputation eines brandigen Fußes den ganzen Organismus
rettet, so die Ausmerzung der kranken Volksteile das ganze Volk."
Wenn heute erneut Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Kranken, so an Alzheimer-Patienten, gefordert wird, und zwar auch solche,
die nicht der Therapie der Betroffenen selbst dient, dann geschieht das
im Rückgriff auf dieses gedankliche Muster, auf ein Muster also,
das 1947 verworfen wurde.
Tatsächlich wird seit einigen Jahren versucht, den Schutz solcher
Menschen abzuschwächen, ja tendenziell aufzulösen. Erstes konkretes
Ergebnis dieser Bemühungen ist eine "Stellungnahme der Zentralen
Ethikkommission" der Bundesärztekammer vom April diesen Jahres.
Dort wird argumentiert, es sei moralisch nicht vertretbar, auf "Fortschritte
in der Erkennung und Behandlung'' von Krankheiten, an denen "Kinder,
Bewußtseinsgestörte und Bewußtlose" litten, zu verzichten;
den "Ersatz der persönlichen Einwilligung" zu den notwendigen
Experimenten könne der gesetzliche Vertreter eines selbst nicht mehr
entscheidungsfähigen Menschen leisten; dieser Vertreter müsse
sein Placet geben dürfen, wenn er aus seiner Kenntnis der vertretenen
Person
"ausreichende Anhaltspunkte hat, um auf ihre Bereitschaft
zur Teilnahme an der Untersuchung schließen zu können";
dies müsse auch Forschungen betreffen,
"durch die voraussichtlich nicht der Betroffene
selbst, immerhin aber andere Personen, die sich in der gleichen Altersgruppe
befinden oder von der gleichen Krankheit oder Störung betroffen
sind, von den gewonnenen Erkenntnissen Nutzen haben".
Mit diesen Grundsätzen liegt die Bundesärztekammer
auf der Linie der Bioethik-Konvention des Europarates, an der sie mitgewirkt
hat und der die Bundesrepublik erst nach einer - heute, Juni 1997, noch
nicht erfolgten - Entscheidung des Bundestages zustimmen kann. Auch dort
werden erstmals Möglichkeiten für fremdnützige Forschungen
an nichteinwilligungsfähigen Patienten eröffnet. Mit einer Gewichtungen
vermeidenden Setzung des Menschen
"sowohl als Individuum als auch als Mitglied der
menschlichen Gattung",
mit dem Grundsatz, daß das Individuum im Bereich
von Biologie und Medizin
"in stärkerem Maße als in vielen anderen
als Teil eines sozialen Gebildes"
angesehen werden müsse, und der Zielsetzung, daß
"die Fortschritte der Biologie und Medizin zum
Wohl der jetzigen und der künftigen Generationen genutzt werden
sollten",
werden die Interessen des Individuums abwägbar gegenüber
denen einer Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, für das Gesamtwohl
und die Zukunft der menschlichen Spezies zu forschen. Dabei liegt auf
der Hand, daß die Befreiung der Medizin von individualethischen
Bindungen zunächst einmal den Bedürfnissen eines weltweit boomenden
medizinisch-industriellen Komplexes genügt.
In einer Zeit sich verknappender Ressourcen und des Umbaus des Sozialstaates
wird aber nicht nur für bestimmte Menschen das Grundrecht auf körperliche
Unversehrtheit, sondern auch das Lebensrecht selbst zur Disposition gestellt.
Die "bioethische" These, personales Leben konstituiere sich
erst durch sinnstiftendes Handeln, erst dadurch erlange es Würde,
Wert und Rechte, ermöglicht rational kalkulierende Abwägungen
z.B. der Interessen behinderter Neugeborener, die dazu anscheinend nicht
in der Lage sind, gegenüber den Interessen der betroffenen Familien,
gegenüber den Interessen gesunder Ersatzkinder und schließlich
gegenüber dem staatlichen Interesse an Kosteneinsparung.
Vor dem Hintergrund solcher Relativierungen des Lebensrechtes bestimmter
Gruppen von Menschen, vor dem Hintergrund auch jener fragwürdigen
Konstruktion eines "mutmaßlichen Willens" ist es zu sehen,
wenn die Bundesärztekammer heute zur Diskussion stellt, daß
lebensverlängernde Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen
auch bei Patienten eingestellt werden können, bei denen das Sterben
noch gar nicht eingesetzt hat; gemeint sind Menschen mit apallischem Syndrom,
die im sogenannten Wachkoma liegen, schwerbehinderte Neugeborene und bestimmte
als "unheilbar krank" Eingestufte. Man geht in dem betreffenden
Richtlinienentwurf "zur ärztlichen Sterbebegleitung und den
Grenzen zumutbarer Behandlung" selbstredend nicht von Erwägungen
zum ökonomischen und gesellschaftlichen Nutzen aus, hebt im Gegenteil
"das Recht des aufgeklärten Patienten auf Selbstbestimmung"
hervor. Abzusehen ist aber, daß viele Menschen aus der Angst, in
Grenzzonen des Lebens in die Fänge einer beziehungslos und technizistisch
erscheinenden Medizin zu geraten, der Einleitung ihres Sterbens in bestimmten
Situationen vorab zustimmen werden. Durch diese Rückverlagerung der
Entscheidung auf eine individuelle Ebene, die Freiheit unterstellt, wo
Angst herrscht, wird die tatsächliche Nähe zu Relativierungs-
und Abwägungsprozessen, wie sie oben charakterisiert wurden, verschleiert.
Abgewiesen wird die historische Erfahrung von Verbrechen, wie sie möglich
werden, wenn man den Wert bestimmter Lebensformen und des einzelnen Menschenlebens
gegen andere Interessen zu gewichten beginnt.
Degenerationslehre und pharmakologische Sozialtechnik
Neue, aktuelle Gefährlichkeit ist auch der im nazistischen
Rassenwahn so mörderisch ausgemünzten Degenerationsvorstellung
zugewachsen, auch hier ist nicht so aus der Geschichte gelernt worden,
wie es im Interesse zuvörderst der gesellschaftlich dysfunktionalen,
von der Norm abweichenden, das ökonomisch effektive Design störenden
Menschen gefordert werden muß. Im Gegenteil sind nach 1945 Evolutions-Regressions-Modelle
wieder aufgelebt, ja insofern verschärft worden, als jetzt sogar
ein Rückfall ins Tierische unterstellt wird: in der Psychose trete
"das spezifisch Menschliche weitgehend in den Hintergrund",
der Patient regrediere auf schematische Reiz-Reaktions-Schemata. In solchen
Modellen wird die Kluft zum Kranken noch einmal vertieft: er erscheint
gar nicht mehr als Mensch im eigentlichen Sinne.
In den USA konnte diese Vorstellung sogar eine sozialtechnologische Verwertung
erfahren. Der Verlust der sozialen Struktur in den Innenstädten wurde
schon als ein Rückschritt der Evolution zu dschungelartigen Verhältnissen
interpretiert, dem am besten mit Psychopharmaka, die den sozial entwurzelten,
zu Kriminalität neigenden jungen Männern verabreicht werden
müßten, zu begegnen sei.
Zurück zur Aufklärung: Lehren aus der Verdrängung Erich
Sterns
In der heutigen psychosomatischen Medizin haben Vorstellungen
ihren festen Platz, nach denen Körper und Seele nicht festumrissene
Einheiten darstellen, zwischen denen eindimensionale Verursachungszusammenhänge
bestehen, sondern ein labiles Konglomerat vielfältig zusammenspielender
Faktoren, die einer ganzheitlichen Betrachtung bedürfen, welche biologische,
psychologische und gesellschaftsbezogene Aspekte vereint.
Sehr aufschlußreich ist es nun, zu beobachten, wie es in den fünfziger
Jahren einem Forscher ergeht, der sich bereits damals mit einem solchen
Ansatz nach vorn wagt. Erich Stern lehnte regelhafte Kausalitäten
zwischen bestimmten Krankheitsbildern und bestimmten Ursachen ab und forderte
mit seinem Anspruch, daß stets die konkrete Gesamtheit des leib-seelisch-sozialen
Ensembles vorurteilslos in den Blick zu nehmen sei, nicht weniger als
eine grundsätzliche Neuorientierung des Faches.
Wenn er hierfür zunächst maßlos angegriffen und herabgesetzt,
dann mit systematischem Totschweigen bestraft wurde, muß das als
ein Phänomen kollektiver Verdrängung gesehen werden, das sich
aus der Unfähigkeit der Psychosomatiker erklärt, nach 1945 die
eigene Vergangenheit bzw. die des Fachs kritisch aufzuarbeiten. Statt
dessen kam es zu einer unkritischen Übernahme von Ansätzen der
amerikanischen Forschung, die nicht nur den Wiederanschluß an die
internationale Entwicklung bot und einen Neuanfang versprach, sondern
die auch inhaltlich etwas zu bieten hatte, was durch Stern nun gerade
wieder irritiert wurde: die Gewißheit einfacher Grundmuster.
Offenbar bedurfte die erschütterte Identität des Faches und
seiner Vertreter, konnte man sie schon nicht durch Erinnerung und Trauer
wiederherstellen, einer Kompensation, die man in einer Art amerikanischer
"Ersatz-Identität" fand.
Unschwer ist in diesem ganzen Vorgang ein Mechanismus sich selbst verkürzender
Rationalität zu erkennen. Erich Sterns Einspruch gegen eine Betrachtung
des Leib-Seele-Kontinuums, die auf einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge
setzt, ist ja geradezu ein Musterbeispiel für das, was Aufklärung
vermag, wenn sie sich selber kritisch über die Schulter schaut und
forschend realisiert, daß die Wirklichkeit des Lebendigen dem menschlichen
Zugriff gegenüber immer eine Neuheit und Fremdheit bewahrt und deshalb
dem verfügenden Wissen, dem technischen Eingriff nie, es sei denn
um den Preis destruktiver Gewalt, zu unterwerfen ist; daß es darauf
ankommt, sich immer wieder der Unvordenklichkeit des Konkreten und der
prinzipiellen Begrenztheit wissenschaftlicher Instrumentarien zu stellen.
In diesem Zusammenhang sei hervorgehoben, daß Erich Stern Jude war.
Es dürften Zusammenhänge bestehen zwischen der Verdrängung
seines irritierenden Ansatzes in bundesrepublikanischer Zeit, seiner Exilierung
durch das "Dritte Reich" und dieser genannten Herkunft: Hitlers
Judenhaß muß auch verstanden werden als der Drang, die Träger
des großen humanitären Gedankens zum Verschwinden zu bringen,
der in besonderer Weise seine Kreise störte: des alttestamentarischen
Tötungsverbots, das fest mit den Gedanken von Liebe und Barmherzigkeit,
aber auch der diesseitigen Unüberwindlichkeit des Leidens und der
Begrenztheit menschlicher Theorie und Praxis verbunden ist und zum rational
unableitbaren Grundbestand unserer Kultur gehört.
Diese Gedanken aber waren nicht nur Hitler im Wege; sie sind dies allen
Modernisierern und allen Formen von Modernisierung dann, wenn sie im Banne
jener unaufgeklärten, "halben" Vernunft verbleiben, technische
Rationalität, Machbarkeit und ökonomischen Gewinn anbeten und
im Blick auf Kranke, Behinderte, Abweichende, Narren, Phantasierende,
Fremdartige sowie auf eine Gesellschaft im ganzen die Wege totaler Medizin
einschlagen.
Auszug aus:
Hans Asbeck und Matthias Hamann [Hg.], Halbierte Vernunft und totale Medizin.
Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirken der Psychiatrie im Nationalsozialismus.
Verlag der Buchläden. 1997
[Es fehlt der auf die einzelnen Beiträge des Bandes
verweisende Anmerkungsapparat]
Aus dem Buch
DIE BEETHOVENSTRASSE
Hg. von der IGS Hannover-Linden. Konzept
und Projektleitung: Hans Asbeck. 1998.
Inhalt dieser Auswahl:
- Was ist die Beethovenstraße?
- Im Nationalsozialismus
- Gedenkblatt für Gertrud und Maria Lenzberg
- Längsschnitte, Überblick, Persepktiven
- Aus den Memoiren eines jüdischen Humboldtschülers
Was ist die Beethovenstraße?
Die Straßen sind das steinerne Gedächtnis
der Stadt. Lindens Beethovenstraße entführt in die sogenannte
"gute alte Zeit", in der es noch einen Kaiser gab und die Bürger
zu einem Wohlstand gekommen waren, den sie in repräsentativen Bauten
zur Schau stellten.
[...]
Daß der hundertjährige Geburtstag dieses die Blicke auf sich
ziehenden und wahrhaftig "sprechenden" Ensembles einen willkommenen
Anlaß geboten hat, das ganze zu verstehen, die Botschaften zu entschlüsseln,
die Fassaden aber auch zu durchdringen und an den Tag zu bringen, was
schon vergessen, vielleicht totgeschwiegen wurde, braucht niemanden zu
verwundern.
[...]
Die Offenheit der Wohngemeinschaften grenzte die alten Bewohner nicht
aus, und so sind dank der WGs Erinnerungen bewahrt worden, die sonst verlorengegangen
wären.
Am 8. August 1938 haben sich in der ersten Etage von Nr. 10 die Schwestern
Lenzberg das Leben genommen. Die Familie war jüdischer Herkunft gewesen,
die Existenzgrundlage ihnen mit Hilfe der Nürnberger Rassegetze genommen
worden, die SA hatte mit uniformierten Posten vor dem Haus auch in der
Privatsphäre Terror ausgeübt. Die Erinnerung dieses Ereignisses
ist in der Beethovenstraße vollständig verlorengegangen, überliefert
wurde sie uns durch einen auch historisch forschenden Assistenzarzt, der
sich als Mitglied der neu eingezogenen WG nach den Vormietern im Haus
erkundigte.
Keine Erinnerungsspur scheint dieser Todesfall in der Schule hinterlassen
zu haben, die direkt gegenüberliegt und von deren Klassenzimmern
man in die Wohnung hineinschauen kann: kein alter Humboldtschüler,
der noch etwas zu wissen scheint (oder zugibt). Nur der Sohn des damaligen
Heizers erinnerte sich, als wir ihm den Brief einer Dame aus Zürich
zeigten, in dem diese von dem zutiefst verstörenden Kindheitserlebnis
erzählt.
Das Beispiel zeigt, daß gerade auch in einer so "sprechenden"
Straße die Steine nicht unbedingt von dem reden, dessen Erinnerung
wir benötigen.
[...]
Hans Asbeck
Im Nationalsozialismus
Zwei auf die Zeit des Nationalsozialismus bezügliche
Fragen haben uns vom Anfang unserer Arbeit an besonders beschäftigt;
die erste:
- Wer waren die beiden jüdischen Frauen, die sich im Haus Nr. 10
der Beethovenstraße umgebracht haben sollen, und wie ist es zu diesem
Ereignis gekommen?
Hierzu sind wir auf absichtlich oder unabsichtlich vernichtete Aktenbestände,
viel Vergessen, Unwissen und Schweigen gestoßen - aber auch auf
unverstellt offene, hilfsbereite, an Aufklärung und Erinnerung interessierte
Menschen. Das Ergebnis fünfmonatiger Recherche stellt nicht zufrieden,
auch haben wir es nicht geschafft, übers Erforschen hinauszugehen
und noch im Kontext des Straßenjubiläums etwas gegen das Vergessen
zu tun. Die Sache weiterhin auf sich beruhen zu lassen, erschien uns aber
ganz und gar unerträglich. Mögen die Leser beurteilen, ob wir
mit dem folgenden "Gedenkblatt" eine angemessene Lösung
gefunden haben.
Die zweite Frage war:
- Wer waren die Zwangsarbeiter, die im Schulgebäude untergebracht
waren, und wie ist es ihnen ergangen?
Auch hier sind wir nicht so weit gekommen, wie wir es gewünscht hätten:
schön wäre es gewesen, wir hätten noch einige der Menschen,
die in unserm Schulgebäude gefangen waren, aufgefunden und zum Jubiläum
einladen können! Immerhin können wir mit dem Schlußbericht
der Schüler-Lehrer-Anwohner-Gruppe, die weit über die Projektwoche
hinaus gearbeitet hat, solide Erkenntnisse vorweisen, die durch das Interview
mit dem damals halbwüchsigen Heizerssohn Könemann willkommen
ergänzt werden. Eine besonders wichtige Ergänzung stellen die
Auszüge aus den Briefen von Tilde Hunsperger-Reinecke und ihrem Bruder
Udo Reinecke dar, die als Kinder die Befreiung durch die Amerikaner erlebten
und eindrucksvoll vom Fest der Befreiten erzählen - dies jedoch erst
im folgenden Kapitel .
In Frau Hunspergers ersten Briefen erfahren wir, wie ein sehr aufmerksames
und sensibles kleines Mädchen die Nazizeit erlebt hat, sie ist auch
der einzige Mensch, den wir finden konnten, der konkret Erlebtes zum Tod
der jüdischen Frauen erzählen konnte. Ihr Brief hat dann Herrn
Könemann entscheidende Anstöße gegeben, der zu diesem
Thema Ergänzendes, darunter zumindest ein ganz wichtiges Detail (SA-Posten
vor dem Haus!) beisteuert.
Herr Könemann hat aber auch noch anderes Wichtige zu berichten. Er
weiß von weiteren jüdischen Anwohnern; besonders anrührend:
seine Erzählung vom kleinen jüdischen Jungen, der nur am Fenster
stehen und nicht ins Freie durfte, den die Kinder einerseits bedauern,
den sie andererseits "verkloppt" hätten, den "Judenbengel".
Wie weit er recht hat, wenn er den Mythos vom widerständig-roten
Linden korrigiert, soll hier nicht erörtert werden. Könemann:
Nazis waren sie auch alle, bis auf die paar, die den Mund nicht aufmachen
durften und auch nicht aufgemacht haben. Geschrieen haben sie alle. Linden
soll immer rotkommunistisch gewesen sein, aber Fahnen haben in jeder Straße,
in jedem Haus gehangen, und Hitlerbilder im Fenster. Der eine oder andere,
der keine Fahne hatte, wurde angemeiert.
Über die Humboldtschule im Nationalsozialismus erfahren wir Wichtiges
von Herrn Meyer und Herrn Baden, wobei nicht übersehen werden darf,
daß Herr Baden uns eine Rede überlassen hat, die er vor Klassenkameraden
gehalten hat, die also auch in einem entsprechenden Ton verfaßt
ist.
Schließlich drucken wir einen weiteren Auszug aus dem anfangs des
vorigen Kapitels schon charakterisierten Quellenmaterial der Humboldtschule
ab, in dem sich wiederum sehr Interessantes findet. Es war eben nicht
so, daß nationalsozialistische Herrschaft überall gleich funktionierte
und alle Deutschen, die nicht Verbrecher waren, keine Handlungsmöglichkeiten
besessen hätten.
Wichtige Ergänzungen finden sich wiederum im "Längsschnitte"-Kapitel:
bei Lehmann, Wolf, Busch, auch bei Heidrich und Neumann.
Hans Asbeck
Gedenkblatt für Gertrud und Marie Lenzberg
Im Jahr 1935 bezogen die Schwestern Marie und Gertrud
Lenzberg die Wohnung im ersten Stock der Beethovenstraße 10. Am
8.8.1938 nahmen sie sich beide dort das Leben. Die Ältere der beiden,
Marie Lenzberg, wurde 1886 in Rinteln geboren, in den folgenden Jahren
zog die Familie Lenzberg nach Hannover. 1890 wurde die jüngere Tochter
Gertrud dort geboren. Die Schwestern waren Teilhaberinnen der Fabrik Gebrüder
Lenzberg & von der Walde, die sie vermutlich von ihrem Vater übernahmen.
Vom Elternhaus her gehörten beide dem jüdischen Glauben an,
doch die ganze Familie war zur evangelischen Kirche gewechselt, der Zeitpunkt
ist nicht bekannt. Wobei nur bei einer der beiden Schwestern als Religionszugehörigkeit
die evangelische eingetragen ist, doch da die ganze Familie nicht auf
dem jüdischen Friedhof begraben wurde, kann man davon ausgehen, daß
auch die andere Schwester konvertiert war.
Die Gründe für den Freitod der Schwestern Lenzberg sind unbekannt,
es läßt sich nur darüber spekulieren.Es gibt auch keine
Unterlagen darüber, ob die beiden Schwestern zum Zeitpunkt ihres
Todes bereits als Jüdinnen erfaßt worden waren. Man kann aber
davon ausgehen, daß der Auslöser für solch eine verzweifelte
Tat im Antisemitismus des Nationalsozialismus liegt.
Vielleicht wurde ihre Fabrik enteignet, sie wurden diskriminiert und ausgegrenzt.
Oft haben Christen jüdischer Herkunft wenig Unterstützung in
ihrer Kirchengemeinde erfahren.
Die ganze Familie wurde auf dem Engesohder Friedhof beigesetzt. Die Grabstelle
existiert nicht mehr.
Anna Metsch, Januar/Februar 1998.
Anna Metsch ist im Haus Beethovenstraße 10 aufgewachsen
und, jetzt Schülerin im gegenüberliegenden Gebäude; vgl.
ihren Beitrag und den von Petra Metsch / Viera Nesporova in Teil E dieses
Buches; mit Dank für Hinweise und Unterstützung bei den Recherchen
an Matthias Hamann, ehemaliger Mitbewohner von Nr. 10, Medizinhistoriker:
er hat von seiner Vormieterin Frau Gosewisch, deren Vormieterinnen wiederum
die beiden Frauen waren, von deren Schicksal erfahren und diese Erinnerung
an uns weitergegeben; Peter Schulze, Stadtarchiv Hannover, der sich wie
kein anderer in der Geschichte der Juden in Hannover auskennt. -
Im März erreichte uns dann aus Zürich der erste Brief einer
Augenzeugin, deren Beiträge an späterer Stelle vollständig
wiedergegeben werden:
Ich habe zum Teil sehr starke Erinnerungen aus den dreißiger
Jahren. Eine, die ich nicht vergessen kann, ist, daß ich als kleines
Mädchen vor Nr. 10 stand und die Polizei zwei Leichen aus dem Hause
transportierte. Wie meine Mutter mir dann sagte, waren das zwei alte
Damen, die sich vergast hatten. Jüdinnen. [...]
Meine Mutter war 1938, als sich die jüdischen Damen vergasten,
eine sehr junge Frau von 29 Jahren mit vier Kindern die, ich vermute,
Angst vor den Folgen hatte, wenn sie mit ihren Kindern über Hitlers
Praktiken sprach und uns dazu anhielt, leise zu sprechen, wenn wir in
der Stube im Erker saßen, denn "der Führer hört
alles".
Tilde Hunsperger
Dieses Schreiben löste dann intensive Erinnerungen
auch bei Herrn Könemann aus, der als Sohn des Humboldtschul-Heizers
im gegenüberliegenden Hofgebäude aufgewachsen ist. In dem ebenfalls
später abgedruckten Interview mit ihm auf die Frage, ob die Frauen
evtl. auch von Nachbarn drangsaliert worden seien:
Nein. Die hatten so einen kleinen schwarzen Hund Fiffi,
waren immer elegant gekleidet, mit schwarzem, eingeschlagenem Haar.
Ich habe sie so bewundert, mit 12-13 Jahren. Die hatten die Fabrik am
Schnellweg, Fössestraße, es hieß, sie waren kulant
zu ihren Angestellten.
Hier in der Straße haben SA-Leute haben mal so einen Tag vor der
Haustür Wache gestanden, wollten wohl wissen, wer da ein und ausging.
"Trittst du als Deutscher hier herein, soll dein Gruß Heil
Hitler sein".
Kapital und die Fabrik wurden wohl beschlagnahmt. Ich weiß nicht.
Das hat einem leid getan. Die waren immer nett. Die hatten ein Dienstmädchen,
wenn man da Kuchen oder Brötchen für sie holte, hat man einen
Apfel oder fünf Pfennig bekommen. Man war natürlich immer
neugierig, in die Wohnung zu kommen.
Wir haben dann noch folgende Spuren gefunden:
Taufbuch der reformierten Gemeinde Hannover 1902:
den 26. Juni: Lenzberg, Georg, geb. 10. Mai 1856, Rechtsanwalt und Notar
in Hannover
Lenzberg, Friederike, geb. Jessurum, geb. 10. Juli 1865 in Lormar /Bormar??
Totenbuch der reformierten Gemeinde Hannover:
1922: Georg Julius Lenzberg, Rechtsanwalt und Notar, gest. 6. 3. 1922,
65 Jahre, Bestattung Stöcken
Adreßbuch-Eintragungen:
1908: Hugo Lenzberg, Karlstraße 1a; Gebrüder Lenzberg, Daunensteppdeckenfabrik,
Karlstraße 1a
Justizrat Georg Lenzberg, Kantplatz 1a
Sanitätsrätin Henriette Lenzberg, geb. Stern, Sedanstraße
x
1929: Gebrüder Lenzberg, Daunensteppdeckenfabrik, Fössestraße
29
Hugo Lenzberg, Fabrikant, Königstraße 13
Marie Lenzberg, Privatière, Königstraße 13
Ernst Lenzberg, Rechtsanwalt
Frieda Lenzberg, Witwe Justizrat Lenzberg
Lily Lenzberg, Tanzschule, Bödecker Straße 96
1936: Ernst Lenzberg, Rechtsanwalt
Gebrüder Lenzberg und von der Walde, Daunensteppdeckenfabrik, Fössestr.
79
Gertrud Lenzberg, Fabrikantin, Beethovenstraße 10
Marie Lenzberg, Fabrikantin, Beethovenstraße 10
1939: Keine Lenzbergs mehr im Adreßbuch; unter Fössestr.
79 aber noch: Gebrüder Lenzberg und von der Walde, Daunensteppdeckenfabrik.
Unter gleicher Adresse aber jetzt auch: W. Tropitzsch, Daunensteppdecken.
Der Hinterhoffabrikant Hugo Lenzberg, bei dem Privat-
und Geschäftsadresse sich 1908 noch deckten, ist also mit dem Betrieb
in ein - sehr geräumiges (s. Bild) - Fabrikgebäude in Linden,
privat unter eine sehr vornehme Adresse in Hannover gezogen. Dort wohnte
seine Tochter Marie bei ihm, ohne berufstätig zu sein. Warum zog
sie nach dem Tod des Vaters mit ihrer Schwester in die Beethovenstraße,
warum brachten sich die beiden dort 1938 um? Wir wußten es nicht,
bis wir über Kontakte bei einer Besichtigung des Fabrikgebäudes
auf den über neunzigjährigen Herrn Rapp stießen, der auf
dem Hof des Fabrikgebäudes gewohnt hatte. Herr Rapp hat die Schwestern
jeden Morgen kommen und jeden Abend gehen sehen: sie haben also die geerbte
Fabrik selbst geleitet, wohnhaft in der zugleich nahe gelegenen und standesgemäßen
Beethovenstraße. Von ihrem Tod wußte Herr Rapp nichts - aber
eines Tages seien sie ausgeblieben, "weil die Nazis ihnen die Fabrik
weggenommen" hätten, so sei es erzählt worden. Es ist also
so, daß die (durch die Nürnberger Rassegesetzgebung legitimierte)
Übereignung in deutsche Hand ("Arisierung") und damit der
Entzug der Existenzgrundlage ihrem Freitod vorausgegangen ist. Vielleicht
war es so, daß die Verankerung in einer sehr qualifizierten und
verantwortungsvollen Berufstätigkeit zusammen mit der Zugehörigkeit
zu einer christlichen Gemeinde und der Beheimatung in der vornehm-bürgerlichen
Beethovenstraße dazu führten, daß die beiden nicht rechtzeitig
von der ihnen als vermögenden Menschen ja durchaus offenstehenden
Möglichkeit der Auswanderung Gebrauch machten.
Wir wissen nicht, welcher Lenzberg oder welche Lenzbergs der Bruder /
die Brüder und Teilhaber des Vaters Kurt Lenzberg gewesen sind. Die
Adreßbücher vermitteln den Eindruck einer erfolgreichen Juristenfamilie,
in der es (besonders für die Zeit!) bemerkenswert starke und eigenwillige
Frauen gab.
Hans Asbeck
Längsschnitte,Überblick, Perspektiven
Dieses letzte Kapitel unseres Buches versammelt Beiträge,
die von mehr als einer Zeitepoche handeln und zusammengenommen einen Überblick
über die ganze Geschichte der Beethovenstraße, ihre Gegenwart
und ihre Zukunftsperspektiven ermöglichen.
[...]
Ansschließend drucken wir ausgewählte Passagen aus umfangreicheren
Darstellungen: aus dem Bericht über seine fast vierzigjährige
Direktorzeit von Leo Wolf und, erstmalig in deutscher Übersetzung,
aus der Lebensgeschichte von Hans J. Lehmann, einem aus Barsinghausen
stammenden jüdischen Humboldtschüler.
Beide Texte sind schon für sich genommen von großem Interesse:
erfahren wir bei Wolf sehr viel über den Geist, der in dieser höheren
Lehranstalt in Kaiserzeit, Weimarer Republik, dem Dritten Reich und in
der unmittelbaren Nachkriesgszeit herrschte, so eröffnet uns Lehmann
die Perspektive des Schülers - hier zunächst: die des Fahrschülers
aus dem Deister; dann: die des jüdischen Schülers, der zunächst
in jener deutsch-jüdischen Normalität heranwächst, die
es auch gegeben hat und die auch - neben Judenfeindschaft und -verfolgung
- der Erinnerung und Vergegenwärtigung wert ist, der sich dann dem
Antisemitismus konfrontiert sieht und unter seinen Mitschülern und
Lehrern auf sehr verrschiedene Haltungen trifft; Lehmann eröffnet
aber auch die Perspektive des Emigranten und Wahl-Amerikaners, der aus
dem fernen Westen auf die alte Heimat zurückblickt, schließlich
als Soldat der Befreiungsarmee zurückkehrt und die kritische, das
Gewesene nicht übergehende, sondern die Lehre aus ihm ziehende Versöhnung
sucht - und zwar konkret: in Barsinghausen, bei den alten Klassenkameraden,
bei ehemaligen Lehrern.
Dabei gewinnen die Lehmann-Memoiren für unser Projekt eine besondere
Bedeutung dadurch, daß sie sich wie ein Kommentar zum Wolfschen
Tätigkeitsbericht lesen lassen, dessen Verfasser er hier einen beachtlichen,
überaus ehrenvollen Platz einräumt, auf den Humboldtschule und
Beethovenstraße heute noch stolz sein können, dem er aber auch
etwas entgegensetzt: den kritischen Blick des aufgeklärten West-"Europäers",
der nüchtern bloßlegt, was bei Wolf auch 1949 noch, bei Abfassung
seiner Memoiren, in ein ideologisch verklärendes Licht getaucht ist:
den zutiefst autoritären, undemokratischen, ja demokratiefeindlichen,
nationalistischen Grundzug einer die ganze Jahrhunderthälfte überspannenden
deutschen Kontinuität, welche die Gesellschaft und das höhere
Schulwesen noch einmal ganz besonders geprägt hat - so auch die Humboldtschule
mit ihren "Helden" verehrenden, das "Vaterland" beschwörenden
Riten, mit ihrer Abweisung durchaus offenstehender demokratischer Möglichkeiten
(Schülermitbestimmung, Beteiligung des Kollegiums an Leitungsbeschlüssen),
der rigorosen Abweisung alles Pazifistischen, gar Sozialistischen, das
hier an der Tagesordung war.
Lehmann macht aber - mit der geradezu rührenden Würdigung seines
über die Jahre bruchlos verehrten Direktors - auch noch etwas anderes,
nicht weniger Wichtiges und für uns Wertvolles deutlich, das in anderen
Beiträgen dieses Bandes bestätigt wird: Dieser bedenklichen
Züge zum Trotz wurde in der Humboldtschule denn doch ein freiheitlicher
Geist von Toleranz und Solidarität mit dem Andersdenkenden hochgehalten,
von diesem bürgerlich-konservativen, von uns heute sehr weit "rechts"
einzuordnenden Lehrkörper, von diesem autoritären Direktor,
der aber eben doch auch ein souveräner, einfühlsamer Pädagoge
und ein sehr fester, mutiger Mann war und als einer der wichtigen Zeugen
dafür gelten kann, daß auch unterm Nationalsozialismus die
Haltung des einzelnen sehr wohl etwas zählte und an Ort und Stelle
erfolgreich Widerstand zu leisten war und rettende Schonräume geschaffen
werden konnten.
Daß sie von einem Juden und ebenso imposanten wie liebenswürdigen
Menschen stammen, darf die Lehmannschen Memoiren natürlich nicht
davor schützen, auch ihrerseits kritisiert zu werden. Wenigstens
an der Stelle, an der Lehmann erzählt, wie er nach 1945 den Mitschülern,
die ihm bis 1936 die Treue gehalten hatten, spätestens danach aber
Nazis wurden, zurück ins bürgerliche Leben und zur Fortsetzung
ihrer beruflichen Karrieren verholfen hat ("Nach dem zweiten Weltkrieg
konnte ich mich dann sogar bei einigen meiner Klassenkameraden für
die Unerschrockenheit im Jahre 1936 revanchieren. Als amerikanischer Offizier
half ich mit, den Makel ihrer erzwungenen Nazi-Parteizugehörigkeit
für ihre zukünftige berufliche Karriere zu beseitigen"),
müssen kritische Fragen gestellt werden.
Wir kennen diese alten Kameraden nicht und wissen auch nichts darüber,
was für das NS-Regime getan haben; wir wissen aber, daß es
eine "erzwungene Nazi-Parteizugehörigkeit" nicht gegeben
hat und daß, wenn schon bei allen erwachsenen Deutschen der damaligen
Zeit, die nicht Widerstand leisteten oder sich zurückzogen, so besonders
bei "Parteigenossen" mit einer mehr oder minder engen Verflechtung
in den verbrecherischen Gesamtzusammenhang gerechnet werden muß.
Und wir wissen auch, daß die Amerikaner mit der sogenannten "Entnazifizierung",
die diesen Namen keineswegs verdient, mit der Ausstellung von "Persilscheinen",
wie der Voksmund das schon treffender benannte, außerordentlich
großzügig, aus heutiger Sicht: fahrlässig-opportunistisch,
verfuhren: das Feindbild wechselte nämlich, man wollte nun die Deutschen
zu Bundesgenossen gegen die Sowjetunion gewinnen. Schließlich wissen
wir, daß dies dem bundesrepublikanischen höheren Schulwesen
nicht gut bekommen ist - jedenfalls dann nicht, wenn man höhere Maßstäbe
demokratischer Erziehung anlegt. Nicht zufällig konnten wir im vorigen
Kapitel bei Dietmar Storch, einem Humboldtschüler der fünziger
Jahre, lesen:
Von der unmittelbaren Gegenwart oder der jüngsten Vergangenheit
war weniger die Rede, und eigentlich erst in Klasse 10, wo wir im Geschichtspensum
mit Mühe und Not noch bis zum Zweiten Weltkrieg kamen.
Gewiß wurden wir auf das schreckliche Geschehen in Auschwitz hingewiesen,
das etwa zu leugnen niemand versuchte. Auch erfuhren wir vom bewegenden
Schicksal einer Anne Frank. Dennoch: Von einer gründlichen Aufarbeitung
der nationalsozialistischen Vergangenheit konnte dabei nicht die Rede
sein. Sie begann erst später, sehr spät, wie ich heute sagen
möchte.
Präsent war die jüngste Vergangenheit indessen auch darin,
daß dem Lehrerkollegium - wenigstens zeitweise - mehrere Oberstudiendirektoren
angehörten, ohne ihre eigentliche Funktion auszuüben. Daß
sich ein ehemaliger Kriegsteilnehmer unter den Lehrern gerne auf seinen
"Freund Rommel" berief, während ein anderer seine fliegerischen
Abenteuer als Luftwaffenpilot gelegentlich wieder aufleben ließ,
blieb indessen eher die Ausnahme. Andere wiederum, vom Kriege sichtbar
gezeichnet. ließen erkennen, wie schwer sie daran trugen, was
in den zwölf Hitlerjahren unter deutschen Verantwortung geschehen
war. Auch blieb uns nicht verborgen, daß es hinter den für
Schüler hermetisch verschlossenen Türen des Lehrerzimmers
deswegen bisweilen zu Spannungen kam.
Hart gesagt, hat die lasche Haltung der amerikanischen Befreier gegenüber
den durch ihre Vergangenheit Belasteten dazu geführt, daß eine
neue Generation von jungen Menschen, die sich nicht mehr selbst schuldig
gemacht hatte, bei alten Nazis in die Schule ging (und u. a. Geschichtsunterricht
bekam). An der Humboldtschule scheinen sie besonders stark vertreten und,
wenn auch in der Funktion degradiert, weiterhin besonders tituliert und
besonders gut bezahlt worden zu sein. Dieser Zusammenhang war für
den sympathisch großzügigen und versöhnungsbereiten Hans
Lehmann damals sicher nicht so wahrzunehmen, wie er heute zutageliegt.
Läßt sich diese Geschichte deuten oder doch als etwas in gewisser
Weise Ganzes in den Blick nehmen, so wie wir das oben mit der Straße
und ihren Bewohnern versucht haben?
Wie der Figurenschmuck der Fassade ausweist, atmet dieses Gebäude
in seiner Konzeption den zugleich "aufgeklärten" und "humanen"
Geist der deutschen Klassik, während die komunalpolitsche Planung
die Berücksichtigung von Bedürfnissen erkennen läßt,
die der Industrialisierung entspringen: eine Reformschule sollte entstehen,
die den Sprößlingen nicht nur der höheren, sondern auch
der mittleren Kreise offenstand und nicht nur auf die Universität,
sondern auch auf Fachschulen für Ingenieure usw. vorbereitete. Was
wir dann aber anhand der Schulakten studieren können, ist, daß
dieser "progressive bürgerliche Humanismus" Schlagseite
bekommt, indem kaiserzeitlicher Antiliberalismus, Chauvinismus und Nationalismus
das Klima bestimmen - und das über Krieg, erste Nachkriegszeit und
Weimarer Republik hinaus und dem Nationalsozialismus den Weg bereitend
- auch wenn sich ein bemerkenswerter Widerstand gegen die Nazis selbst,
gegen Intoleranz, Rassismus und Menschenverachtung geltend macht: ein
mit dem Namen Wolf verbundenes, aber sicher auch einem großen Teil
seiner Kollegen zu verdankendes Ruhmesblatt, wie es nur die wenigsten
höheren Lehranstalten in Deutschland vorweisen können.
Als der aggressive deutsche Nationalismus dann vor dem endgültigen
Ruin steht und, im Weltkrieg, die letzten Reserven mobilisiert werden,
werden Schüler und Lehrer als Soldaten (schon zum zweiten Mal), das
Gebäude zum Zwangsarbeiterlager für die Rüstungsindustrie
mißbraucht: ein tieferer Fall läßt sich kaum denken.
Dank dieser Zwangsarbeiter partizipieren dann aber Schulgebäude und
Beethovenstraße, besonders die Kinder der Beethovenstraße,
unmittelbar und höchst eindrucksvoll an dem, was die Niederlage von
1945 für das durch die Fassade gewissermaßen hochgehaltene
bessere Deutschland bedeutete: Befreiung. Ironie der Geschichte: vielleicht
hat es in der Geschichte von Schule und Straße keine glücklicheren,
lebendigeren, menschlicheren Tage gegeben als die, an denen die befreiten
Zwangsarbeiter, nun für kurze Zeit Herrren im Land, auf dem Schulhof
überm offenen Feuer ihr geklautes Fleisch brieten, den Kindern zu
essen gaben, ihnen Fahrradkunststück beibrachten, die Lieder ihrer
Heimat sangen - und das alles ohne den mindesten Respekt weder gegenüber
Wilhelm noch gegenüber Alexander von Humboldt.
Diesen Respekt haben wahrscheinlich auch die von der 68er Bewegung angefachten
jungen Lehrerinnen und Lehrer vermissen lassen, die schließlich,
nachdem das Gebäude von Schule schrittweise entkernt und zur städtischen
Verfügungsmasse geworden war, für dessen Übereignung an
die Integrierte Gesamtschule demonstrierten. [...] Hat diese Schule noch
etwas mit der alten Humboldtschule und ihren Namenspatronen, mit Beethoven,
mit dem Programm der Fassade, mit den Gründungsplänen der Lindener
Stadtväter zu tun?
[...]
Dies alles ist mit dem aufgeklärten deutschen Humanismus sehr wohl
vereinbar, ja es steht in seiner direkten Tradition[...]. Es paßt
zur Weltläufigkeit der Humboldtbrüder, insbesondere zu Alexanders
interessierten Respekt allem Fremden gegenüber, seinem tätigen
Einschreiten gegen Rassismus und Sklaverei, wie es auch zum Weltbürgertum
der Schiller, Beethoven usw. paßt. Es führt schließlich
zu Ende, was ansatzweise schon den Lindener Stadtvätern vorschwebte,
als sie eine Schule konzipierten, die verschiedene gegeneinander nicht
abgeschottete Laufbahnen unter einem Dach vereinigen und Schülern
unterschiedlicher Herkunft offenstehen sollte: was man rückblickend
einen Gesamtschulansatz nennen könnte. Und indem es einen entscheidenden
Mangel des alten Konzepts korrigiert: für die Bürger-, aber
nicht für die Arbeiterkinder dazusein, kehrt es zu dem zurück,
was Aufgeklärung und Humanismus eigentlich immer schon gewesen sind:
eine Emanzipationsbewegung für alle Menschen.
Hans Asbeck
Hans J. Lehmann
Aus den Memoiren eines jüdischen Humboldtschülers
Barsinghausen war ein kleiner Ort in Norddeutschland mit
6000 Seelen, als ich dort am 16. Oktober 1911 das Licht der Welt erblickte.
1917 kam ich in die Schule. Das erste Jahr ging ich in eine Privatschule.
Dort traf ich Gerhard, meinen engsten Freund, der eine wichtige Rolle
in meiner Jugend spielte und später auf so tragische endete.
1918 kam ich in die neu eingerichtete jüdische Grundschule. Es war
das typische Schulhaus aus roten Ziegeln mit nur einem einzigen Klassenzimmer.
In Deutschland war es unüblich, Staat und Religion zu trennen. So
hatte jede religiöse Gruppe Kinder in ihrer eigenen, staatlich subventionierten
Schule zu unterrichten. Eine kleine aber erfolgreiche jüdische Gemeinde
von ungefähr 80 Seelen war vollständig in der Gemeinde von Barsinghausen
integriert.
In dem Einzimmer-Schulhaus wurden die wenigen jüdischen Kinder unterrichtet.
Unser Lehrer und gleichzeitig Rabbiner Aaron Cohen hatte zehn Schulkinder
zu unterrichten und war gleichzeitig damit beauftragt, geistlicher Führer
der kleinen jüdischen Gemeinde zu sein. Herr Cohen hatte die undankbare
Aufgabe, Schüler aus drei verschiedenen Stufen gleichzeitig und in
nur einem Klassenzimmer zu unterrichten.
Trotz der räumlichen Begrenzung lernte ich dank meines wundervollen
Lehrers Herrn Cohen eine ganze Menge. Er war eine hoch angesehene, gebildete
Persönlichkeit, die von allen Einwohnern der Stadt, Juden und Nichtjuden,
respektiert wurde.
So konnte ich ohne Schwierigkeiten im Altern von neun Jahren die Zulassungsprüfung
für das Gymnasium in Hannover bestehen.
Mein Großvater war mir immer besonders zugeneigt. Da ich der älteste
Enkelsohn war, wurde von mir erwartet, daß ich samstags den Gottesdienst
in der Synagoge besuchte und natürlich auch die traditionellen Gebete
auf hebräisch rezitierte. Da ich ein gehorsames Kind war, plante
mein Großvater eine Karriere als Rabbi für mich. All seine
Träume zerbrachen mit meinem Eintritt in das Gymnasium in Hannover.
An den deutschen Schulen praktizierte man die Sechstagewoche. Das bedeutete,
daß ich auch am Sonnabend die Schule besuchte und damit das heiligste
Gebot, das Feiern des Sabbat, brach.
Onkel Siegfried, der beinahe sein Leben im Ersten Weltkrieg durch Schrapnellverletzungen
verlor, stand mir fast so nahe wie mein Vater. Als er, mit einem Eisernen
Kreuz dekoriert aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, lebte er bei
uns, wenn er nicht gerade im Krankenhaus war, was regelmäßig
vorkam. Seine Verletzungen am Brustkorb eiterten viele Jahre und es war
Mutters Aufgabe, täglich die eitrigen Verbände zu wechseln.
Ich kannte Siegfried meist nur als einen kranken Mann, der mit Geduld
seine Leiden durch die Kriegsverletzung ertrug. Da Vater oft auf Geschäftsreisen
war, wurde Siegfried so etwas wie ein Ersatzvater für mich. Vater
und der jüngste Bruder Hermann waren damit beschäftigt, auf
Reisen zu sein, und Siegfried kümmerte sich um die Buchhaltung und
die Verkäufe in dem großen Geschäft zu Hause. Im Gegensatz
zu Adolf und Hermann, die aus sich herausgingen und recht laut waren,
war Siegfried ruhig und konservativ. Er war auch der einzige Gläubige
seiner Generation. Er befolgte die Regeln des Alten Testaments mit Hingabe.
Seine religiöse Hingabe war schließlich der Grund seines tragischen
Endes in einem Konzentrationslager. Als im September 1939, kurz vor Ausbruch
des Zweiten Weltkrieges, alles vorbereitet war für die Abreise aus
Deutschland, weigerte er sich an Bord eines Schiffes zu gehen, weil gerade
jüdische Feiertage waren. Zwei Wochen später war es zu spät.
Der Krieg war ausgebrochen. Er und seine siebenköpfige Familie starben
in Konzentrationslagern. Wo war der Gott, zu dem er sein ganzes Leben
lang gebetet hatte, als er ihn am meisten brauchte.
Im großen und ganzen war unser Familienleben heiter in diesen Nachkriegsjahren,
unbelastet von den politischen Problemen der Weimarer Republik.
Meine Eltern waren völlig in die Gesellschaft der Stadt integriert.
Der soziale Status in einer deutschen Kleinstadt wurde vom Bildungsstand
und von der finanziellen Position bestimmt. Die obere Klasse bestand nur
aus Adligen und Akademikern. Meine Eltern gehörten zu der Schicht
der erfolgreichen Kaufleute. Sie pflegten intensive Kontakte mit Juden
und Nichtjuden gleichermaßen. Da es keine jüdischen Kinder
meines Alters gab, beschränkten sich meine Kontakte auf die Jungen
meiner Gemeinde. Meine Freundschaft mit Fritz in dem alten Bauernhaus
und die tragische Haßliebe zwischen Gerhard, dem blonden "arischen"
Nachbarjungen und mir, werden noch mal in zwei weiteren Kapiteln dieses
Buches aufgegriffen.
Ich liebte meinen Geburtsort und hielt ihn für den schönsten
Platz auf Erden. Das Stadtbild wurde von einer Kirche, aus lokalem Sandstein
gebaut, beherrscht. Sie stammt aus dem 11. Jahrhundert und war in einem
angelsächsischen Stil gebaut, den man auch in England auf dem lande
findet. In meinem letzten Schuljahr auf dem Gymnasium schrieb ich einen
langen Aufsatz über die Geschichte dieser Kirche.
Die Inflation
Nach Ende des großen Krieges 1918 wurde bald ersichtlich,
daß die neue deutsche Demokratie auf wackligen Füßen
stand. Sie wurde lediglich durch die Arbeiterklasse unterstützt.
Der Kaiser lebte im holländischen Exil. (Vater, der ein hingebungsvoller
Monarchist war, besuchte ihn 1920.) Die Monokel tragenden Adeligen, die
Deutschland viele Jahre lang auf arrogante Weise regierten war nun ohne
Macht und intrigierte gegen die verachtete Republik.
In diesen hektischen Tagen hatte ich begonnen, die unteren Sprossen der
Leiter eines deutschen Gymnasiums zu erklimmen. Dieser neunjährige
Hindernislauf durch die Humboldtschule nahm mich während meiner Jugend
mit haut uns haaren in Anspruch. Mein Schultag begann mit dem Aufstehen
um halb sechs in der Frühe. Ich raste dann zum Bahnhof, um den sechs
Uhr zwanzig Zug zu erwischen und mußte eine Stunde auf harten Bänken
sitzen, bis wir Hannover erreichten. Vom Hauptbahnhof ging es dann im
Eilschritt durch den am meisten industrialisierten Teil der Stadt, um
Punkt acht Uhr das ehrwürdige Schulgebäude zu erreichen. Wenn
ich den Zug verpaßt hatte, mußte ich zweiundzwanzig Kilometer
mit dem Fahrrad im Höchsttempo fahren, um rechtzeitig in der Schule
zu sein.
Was konnte ein deutscher Junge in dieser Zeit schon von Amerika wissen
?
Wahrscheinlich hatte ich von einem großen Kontinent gelesen, der
von rothäutigen Indianern bewohnt war, die sich gegenseitig mit ihren
Tomahawks skalpierten. In den Jahren des Krieges wurden wir Kinder mit
häßlicher Propaganda bombardiert, die Bilder von grausamen
amerikanischen Soldaten zweigte, die in Cowboykleidung deutsche Kinder
umbrachten. Aber im Jahre 1920, meinem ersten Jahr im Gymnasium, wurden
wir Kinder aufgefordert, uns für eine ärztliche Untersuchung
vorzubereiten. Da in Deutschland noch viele Menschen hungerten, bestanden
viele Kinder die Untersuchung nicht. Ihnen wurde eine tägliche Ration
Milch verordnet und sie wurden für einen Monat zur Erholung an die
See geschickt. Und von wem ? Von den amerikanischen Quäkern. Ich
wußte damals nicht, wer die Quäker waren, aber den Gedanke,
daß einstige Feinde ihren besiegten Opfern zu Hilfe kommen, entzog
sich völlig dem europäischen Verständnis. Rache und Wiedergutmachung
war bisher nach allen europäischen Kriegen von den Siegern ausgeübt
und gefordert worden. Dieses Kindheitserlebnis bezüglich Amerika
und seiner Großzügigkeit gegenüber einer besiegten Nation,
hinterließ bis zum heutigen Tag größten Eindruck auf
mich. Wahrscheinlich ist diese Erfahrung mit dafür verantwortlich,
daß in mir schließlich der Wunsch reifte, in dieses gute und
wohltätige Land auszuwandern.
Aber schon viel zu früh nach der Niederlage von 1918, entstand der
deutsche Chauvinismus wieder auf. Er wurde sozusagen Teil des Lehrplanes
unserer Lehrer. Die meisten unserer Lehrer dienten als Offiziere in der
deutschen Armee. Sie alle waren der Gehirnwäsche mit dem "Untertan
Geist", der bedingungslosen Unterwürfigkeit gegenüber dem
Kaiser, unterzogen worden. Auch wenn sie der neuen Republik ihre Loyalität
geschworen hatten, so träumten sie doch von der Wiederauferstehung
der glorreichen Monarchie. Diese kritiklose Unterwürfigkeit ist schon
seit Jahrhunderten ein typisch deutscher Charakterzug. Seit Deutschland
mit dem Sieg über römische Legionen durch Hermann, den Cherusker,
im Jahre 4 n. Chr. in die Geschichte einging, hatte es noch nie eine Tradition
für Demokratie gegeben. Diese "Schlacht im Teutoburger Wald"
hat nicht weit von Barsinghausen stattgefunden. Als Kinder streiften wir
durch die Tannenwälder und suchten nach Relikten dieses stolzen Sieges
der teutonischen Barbaren über die römischen Zenturionen.
Uns Schülern wurde gelehrt, daß Demokratie ein verwerfliches
Wort sei. Unsere Lehrer glorifizierten den Militarismus. Der äußerst
ordinäre Lieblingsbefehl eines meiner Lehrer lautete: "Kneif
die Arschbacken zusammen !". Ich erinnere mich auch an den Titel
eines Aufsatzes, den wir in der Abiturprüfung bearbeiten mußten:
"Krieg, eine gesunde Reinigung für die Nation." Ist das
das geeignete Thema für junge Menschen zwölf Jahre nach den
Agonien der bittersten Niederlage in der deutschen Geschichte ? Wie hätte
in einem solchen Klima ein gesundes Verständnis der Demokratie reifen
können ?
Das schlimmste Erlebnis für einen jüdischen Jungen ist die Begegnung
mit dem Bösen, genannt "Antisemitismus". Zu erfahren, daß
man anders ist, nicht akzeptiert und abgelehnt wird von seinen früheren
Freunden, ist ein harter Schlag. Ich hatte in Deutschland und in meiner
kleinen Stadt in dem sicheren Hafen der Naivität gelebt. Ich war
der einzige Jude in meiner Altersklasse aber ich war voll und ganz integriert.
Hin und wieder waren Schmährufe wie "Christenmörder"
zu hören. Sie zu überhören oder sie zu bekämpfen fiel
sehr schwer.
Auch in Hannover, am Gymnasium, war ich der einzige Jude in meiner Klasse
während der ganzen neun Jahre. Ich wollte meine eigenen Rekorde aufstellen
und nicht anderer halten. Ich wollte als das angesehen werden, was ich
war: ein Junge vom Lande, aus einer Familie mit gutem Ruf und einer stolzen
patriotischen Vergangenheit. Ich kann die meisten meiner Mitschüler
für die Akzeptanz, die Toleranz und die Freundschaft, die sie mir
entgegengebracht haben, nur loben. Viele dieser Freundschaften überstanden
die schrecklichen Zeiten von Hitlers Macht und bestehen noch heute.
In den Anfangsjahren am Gymnasium wurde ich kaum mit häßlichen,
antisemitischen Angriffen konfrontiert und vor allem kaum seitens meiner
Mitschüler. Gegen Ende meiner Schulzeit jedoch, zeigte die unaufhörliche
antisemitische Propaganda der Nazipresse ihre Wirkung auf jedermann. Wie
sonst ist es zu erklären, daß täglich auf jeder Nazizeitung
in dicken Lettern die Überschrift prangte: "Die Juden sind schuld
an unserer schlimmen Lage."
Ich bin auf dem Schulweg auch oft am Zuhause eines angenehmeren Herrn
[Lehmann hat zuvor vom Massenmörder Haarmann erzählt] vorbeigekommen,
und zwar bei Feldmarschall Paul von Hindenburg.
Im Jahre 1928 feierte ganz Deutschland den achtzigsten Geburtstag dieses
überall populären Helden aus dem Ersten Weltkrieg. Das spektakulärste
geplante Ereignis war dabei die Versammlung von 90 000 Gymnasiasten, die
aus ganz Deutschland zusammengetrommelt wurden. Dies sollte im Potsdamer
Stadion stattfinden, dem späteren Veranstaltungsort der Olympischen
Spiele von 1936. Vier Schüler wurden ausgewählt, um die Humboldt-Schule
bei der Zeremonie zu vertreten, und ich war einer davon. Diese Auswahl
zeigt, daß 1928 das Gift der religiösen und rassistischen Diffamierung
noch keine richtige Wirkung zeigte, zumindest nicht an meiner Schule.
Obwohl ich während der neun Jahre am Gymnasium in Hannover immer
meine religiöse Zugehörigkeit mit Stolz bekundete, wurde ich
deswegen nur sehr selten diskriminiert. Der Religionsunterricht gehörte
zum erzieherischen Curriculum/Lehrplan. In unserer Klasse gab es nur noch
einen weiteren Schüler, der einer religiösen Minderheit angehörte.
Es war eine katholischer Junge namens Heinz. Alle anderen Schüler
waren Lutheraner.
Heinz (Kurzform für Heinrich) und Hans (Kurzform für Johannes),
die zwei "Ungläubigen", waren freigestellt von den zwei
Wochenstunden, an denen protestantischer Bibelunterricht gegeben wurde.
Während dieser Stunden liefen wir gewöhnlich durch die Straßen
Hannovers, vorausgesetzt, daß es nicht regnete. Weil es aber oft
in Hannover regnete, habe ich auch einen kleinen Teil der Lehren des Neuen
Testaments kennengelernt. Dahingegen entstand durch die zwei Stunden der
Gemeinsamkeit bei sonnigem Wetter eine lebenslange Freundschaft zwischen
Heinz und Hans.
Da ich oft damit prahlte, daß der Kontor der Hauptsynagoge in Hannover,
eine phantastische Stimme hätte, fragten mich Heinz und einige andere
Klassenkameraden, alles musikalische Laien, einmal: "Warum nimmst
du uns nicht einmal zu einer Sabbath-Messe in der Hannoveraner Synagoge
mit?". Ich willigte schließlich ein, obwohl ich nicht wußte,
wie sie auf die strenge jüdische Litanei reagieren würden. Nach
der Messe waren sich alle darüber einig, daß tatsächlich
kein Tenor an der Hannoverschen Oper eine so grandiose Stimme wie der
Kantor Alter hatte.
Im Jahre 1936, sechs Jahre nach dem Abitur an der Humboldt-Schule, als
ich gerade dabei war, nach Amerika abzureisen, organisierte Heinz eine
Abschiedsfeier für mich, während der dunklen Tages des Hitlerregiemes.
Dieser etwas heimliche Abschied wurde von einigen meiner ehemaligen Klassenkameraden
besucht. Nach Verhängung der Nürnberger Gesetze, war der gesellschaftliche
Umgang mit Juden verboten. Ihre Anwesenheit bei der Feier, um neun Jahre
einer tollen Freundschaft und Kameradschaft am Gymnasium zu feiern, bedeutete
also ein erhebliches persönliches Risiko für sie, das sie bewußt
eingingen.
Nach dem zweiten Weltkrieg konnte ich mich dann sogar bei einigen meiner
Klassenkameraden für die Unerschrockenheit im Jahre 1936 revanchieren.
Als amerikanischer Offizier half ich mit, den Makel ihrer erzwungenen
Nazi - Parteizugehörigkeit für ihre zukünftige berufliche
Karriere zu beseitigen. Ich werde den Grund dafür später rechtfertigen.
Inzwischen, während meiner letzten beiden Jahre auf dem Gymnasium
(1929 bis 1930), waren Hitler und die Nazipartei zu einer wachsenden Bedrohung
für die Weimarer Republik geworden. In diesen Jahren haben die meisten
Deutschen die Nazibanden immer noch als Straßenkämpfer angesehen,
die in blutige politische Schlachten verwickelt waren. Ich kann mich nicht
erinnern, ob irgend jemand meiner Klassenkameraden vom Abiturjahrgang
1930 sich der Hitlerjugend oder den Sturmtruppen angeschlossen hatte.
Natürlich änderte sich das schon kurz danach. Ich konnte diesen
Meinungsumschwung leicht erkennen an den vielen Diskussionen mit meinen
Mitschülern wenn es um das von Hitler geschaffene nationale Bewußtsein
ging. Es gab keinen Zweifel daran, daß der patriotische Appell der
Nazis auf breite Zustimmung bei jungen Studenten stieß. Viele meiner
Klassenkameraden hatten in den Nachkriegsjahren unter Hunger gelitten,
während sie gleichzeitig die bitteren Folgen der Niederlage ertragen
mußten. Lebensmittelknappheit, Streiks, schlechte Unterkünfte.
All diese Resultate der Inflation und der anhaltenden politischen Unruhen
hatten Narben in ihrem Gedächtnis hinterlassen. Am Horizont türmte
sich eine weltweite Niedergeschlagenheit auf und die Arbeitslosigkeit
war das größte Problem in dieser Zeit.
Meine Mitschüler sagten mir: "Wir sehnen uns nach einem Retter.
Hitler verspricht uns Arbeit. Er wird unsere nationale Ehre wiederherstellen."
Während unserer politischen Diskussionen sagte ich einmal in weiser
Voraussicht: " Wenn Hitler jemals an die Macht kommen sollte, kann
ich Euch nach den ersten euphorischen Jahren versprechen, daß ein
neuer Weltkrieg ausbrechen wird. Furchtbare Leiden werden auf das Deutsche
Volk zukommen." Das glaubte mir niemand und ich konnte nicht viele
dieser Dispute für mich entscheiden. Wie dem auch sei, in diesen
Tagen hatte ich persönlich nichts zu leiden. Ich wurde nicht geschmäht
und nicht geschlagen.
Fritz, mein Spielkamerad aus der Kindheit bleibt immer noch ein treuer
Freund. Er war als Soldat bei den Nazis und somit bei allen Aktionen unter
Hitler dabei. Er schrieb mir einen Brief im Oktober des Jahres 1988, mit
dem folgenden Inhalt: "Bald haben wir den 50. Jahrestag der "Kristallnacht".
Eine zeit der Verzweiflung für die Juden, auf die unmenschliche Taten
der Grausamkeit durch die Deutschen verübt wurden. Ich bin mir der
gemeinsamen Schuld bewußt, die ich auf mich geladen habe. Eine Schuld,
die niemals vergessen werden darf, solange es Menschen auf dieser Erde
gibt. Ich bin froh darüber, daß sich junge Leute für diese
Sache zunehmend interessieren. Sie verlangen von den Älteren Antworten
auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß solche grausamen Verbrechen
im Namen des Deutschen Volkes begangen werden konnten."
Bei einem Besuch im Jahre 1975 in B. teilte ich Fritz mit, daß ich
niemals nach B. zurückkommen würde: "Die Erinnerung an
Onkel Siegfrieds langes Leiden als Christ für sein Vaterland und
der Geist seiner drei unschuldigen Kinder und deren Leben voller Qualen
und ihr Tod in den Gaskammern der Konzentrationslager würden mich
nicht eine Nacht in B. ohne Alpträume verbringen lassen." Voller
Mitleid fragte mich Fritz: "Was kann ich tun, damit du in Deine Heimatstadt
zurückkehrst, wo wir einst als Kinder friedlich miteinander gespielt
haben?"
Ich antwortete: "Nur ein deutliches Zeichen der Reue meiner Geburtsstadt
würde mich überzeugen, jemals wieder dort hin zu kommen. Es
muß eine sichtbares Zeichen der Sühne geben. Vielleicht ein
Gedenkstein als Ersatz für einen Grabstein oder eine Gedenkstätte,
die Siegfried niemals bekommen hat. Seine Gebeine wurden wahrscheinlich
in ein Massengrab geschleudert oder wurden auf einen Güterzug gestapelt,
wie ich es bei einem Zwangsarbeiter-Lager in Nordhausen gesehen habe."
Fünf Jahre später überzeugte Fritz den Stadtrat von B.,
die Straße vor Siegfrieds altem Haus und gegenüber von meinem
Geburtshaus umzubenennen in "Siegfried-Lehmann-Straße."
So haben sich im Jahre 1980 zweiundzwanzig Mitglieder der Familie Lehmann,
die nun über den ganzen Globus verstreut sind, in B. zusammengefunden,
um der feierlichen Enthüllung des Straßenschildes beizuwohnen.
Dies ist hoffentlich ein immerwährendes Symbol der Sühne.
Unsere Familie schrieb dann einen jährlichen Preis aus, der an eine
oder mehrere Personen aus Barsinghausen verliehen wurde, die sich verdient
gemacht hatten um die Förderung der Brüderlichkeit unter den
Menschen und der Erhaltung des Friedens.
Was uns immer noch trennt, ist unser Hang zu archaischen Verhaltensweisen
aus der Vergangenheit, wie der Drang zu hegemonischer Vorherrschaft, der
Rassismus und die Habgier. Selbst die Religion ist eine eher trennende
Kraft, wie man in der ganzen Geschichte beobachten kann. Bei meinen Auslandsreisen
als Medizin-Professor habe ich Leute gesehen, die zu unterschiedlichen
Göttern gebetet haben, aber mit der gleichen Leidenschaft. Und ich
habe mich immer gefragt, wer denn nun die richtige Telefonnummer zu Gott
hat. So lange die Religion den Gläubigen Trost spendet und die Gebete
im eigenen Haus bleiben oder in Gebetshäusern sind diese Bestrebungen
lobenswert. Unglücklicherweise tendieren organisierte Religionen
dazu, missionarischen Eifer zu entwickeln und dies führte in der
Geschichte immer zu Religionskriegen und der Verfolgung der "Ungläubigen."
Die weisen Väter unseres Landes ersannen die völlig neuartige
und sogar revolutionäre Idee von der Trennung von Kirche und Staat.
In einer Zeit, in der dieses wertvolle und nur in Amerika gültige
Konzept unter Beschuß gerät, muß Amerika seinen unbeirrten
Glauben an diesen Grundsatz erneuern.
Während der letzten vierzig Jahre wurde Amerika in zwei blutige "regionale"
Kriege hineingezogen, die von der jetzigen Warte aus gesehen, durch klügere
Regierende auf beiden Seiten der Konfliktparteien hätten verhindert
werden können. diese unsinnigen Kriege destabilisierten unsere Wirtschaft
und desillusionierten unsere Jugend.
In Zukunft sollten Kriegs-Händler bestraft und rassistischer und
nationalistischer Haß nicht toleriert werden. Wenn Deutschland und
Frankreich nach tausend Jahren des Unfriedens und des Hasses, der mir
in meiner Jugend schon eingebläut wurde, jetzt brüderlich nebeneinander
leben - warum können dann Araber und Juden nicht einen Weg zum Frieden
und somit zum Nutzen für beide Völker finden?
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